Anti-Rassismus und Mainstream – kann es falsch sein, bei Sonnenschein zu demonstrieren?

Seit Jahren treibt mich das Thema Rassismus um. Ich habe Alice Hasters, Reni Eddo-Lodge, Angie Thomas und Ta-Nehisi Coates gelesen. Ja, wirklich gelesen, Seite für Seite und nicht auf irgendeine „Vielleicht-irgendwann-mal-sichten-Liste“ geschrieben. Ich verehre James Baldwin und das schon schon lange, und ich weiß, dass auch Deutschland eine Kolonialgeschichte aufzuarbeiten hat.

Doch erst jetzt, im Zuge der Ermordung George Floyds, habe ich ein Post zu strukturellem Rassismus gegen POC geschrieben. Wie so viele andere, die derzeit dazu bloggen, Lesetipps geben und sich im Netz solidarisch zeigen wollen. Das hat vielen Blogger*innen jedoch Kritik eingebracht, denn schon längst hätte die Leserschaft ein eindeutiges Bekenntnis erwartet. Schließlich werden in den USA seit Jahren immer wieder POC Opfer von Polizeigewalt. Und nicht nur das: Struktureller Rassismus ist ein ernst zu nehmendes Problem, auch hier in Deutschland. Man wirft Blogger*innen und Prominenten vor, sie meinten es nicht ernst, wenn sie sich erst jetzt offen positionieren. Es scheint vielen so, als würden sie lediglich posten, ohne nachhaltig etwas ändern zu wollen, ohne sich eigene Gedanken zu machen, einfach weil es derzeit Trend ist.

Auch die – meist sehr jungen – Demonstrant*innen, die Demos der „Black Lives Matter – Bewegung“ besuchen, sehen sich in den sozialen Medien und in der Presse bisweilen Vorwürfen ausgesetzt: Sie gingen nur auf die Straßen, weil durch die Zwangspause so lange nichts los gewesen sei, und es herrsche eine viel zu fröhliche Stimmung. Außerdem seien sie ja ohnehin nur da, um durch Photos vor Protestplakaten, eine coole Instastory zu kreieren.

Und wenn es so ist? Was spricht dagegen, dass Anti-Rassismus Mainstream wird? Wäre das nicht wünschenswert und längst überfällig? Wenn nur einzelne Blogger*innen oder Demonstrant*innen jetzt wirklich Alice Hasters oder Reni Eddo-Lodge lesen, dann ist das doch schon ein Gewinn.

Auch wenn Demonstrant*innen aus vermeintlich falschen Motiven auf die Straße gehen, sind sie doch da, werden gesehen, motivieren andere und werden vielleicht – durch die manchmal sehr bewegenden Kundgebungen – zu einer echten Auseinandersetzung mit Rassismus – auch im eigenen Kopf – gebracht.

Es wäre doch viel schockierender, wenn angesichts der schrecklichen Bilder von George Floyds Ermordung alle ruhig blieben. Wer sich jetzt nicht klar bekennt, hat kein Herz oder steckt schon ganz tief drin im rassistischen Sumpf – was wahrscheinlich das Gleiche ist.

Erst warfen Erwachsene jungen Menschen vor, sie seien völlig unpolitisch und nur an ihrer eigenen kleinen Welt interessiert. Sobald sich Jugendliche freitags anstatt in der Schule auf öffentlichen Plätzen versammelten, um auf die Klima-Krise aufmerksam zu machen, sagten andere ihnen nach, sie seien Schönwetter-Demonstrant*innen, die nur auf die Straße gingen, wenn deshalb Latein-Unterricht und Mathe-Arbeiten ausfielen. An damals geäußerte Kritik erinnern mich manche der Vorwürfe, die heute laut werden, wenn junge Menschen sich auf deutschen Straßen für die Belange der POC einsetzen.

Ein weiterer – meiner Meinung nach allerdings deutlich berechtigterer – Vorwurf, beispielsweise von Jagoda Marinić in der Süddeutschen Zeitung geübt, ist der, dass für George Floyd jetzt alle das tun, was sie bei Enver Şimşek und anderen muslimischen Opfern des Rassismus nicht oder nicht in ausreichendem Maße getan haben. Es trifft leider zu, dass hier Vieles versäumt wurde, und dass nach Bekanntwerden der NSU-Morde und der zugehörigen Ermittlungspannen kein echtes „Wir-gegen-den-Rassismus-Gefühl“ entstanden ist. Der Aufschrei, der damals durch die deutsche Bevölkerung ging, blieb vergleichsweise leise. Anti-muslimischer Rassismus war und ist jedoch ein großes Problem in der BRD und natürlich sind muslimische Minderheiten die größten in Deutschland. Diese und weitere Minderheiten haben eine echte Auseinandersetzung mit Vorurteilen ihnen gegenüber und z.B. mit anti-muslimischen, antisemitischen und antiziganistischen Traditionen in der BRD verdient. Hier gibt es so viel aufzuarbeiten und zu tun!

Aber sollen jetzt alle zu Hauses bleiben, weil sie damals ein entschlossenes Auftreten gegen Rechts versäumt haben? Viele der heutigen Demonstrant*innen waren im Jahre 2000, als Enver Şimşek erschossen wurde, noch gar nicht geboren. Es ist eine andere Generation, die das versäumt hat und jetzt nicht wieder etwas versäumen sollte.

Wie so oft, ist es doch so, dass man irgendwo und irgendwann einfach mal anfangen muss, damit sich dauerhaft etwas in den Köpfen ändern kann. Wir wollen doch alle besser werden und uns solidarischer zeigen – allen Minderheiten gegenüber.

Aber warum müssen sich jetzt die rechtfertigen, die aufstehen? Die sich samstags versammeln und im Netz gegen Rassismus anschreiben? Warum müssen sich junge Menschen, die möglicherweise zum ersten Mal in ihrem Leben auf Demonstrationen gehen und sich mit ihren Privilegien auseinandersetzen, Vorwürfe anhören?

Schlimmer als „falsch“ zu demonstrieren, weil nicht alle Minderheiten ausreichend mit einbezogen werden, ist immer noch eines: zu Hause bleiben und gar nichts tun.

Zur Ermordung George Floyds

Lieber ehemaliger Mitschüler! Liebe Erzieherin meiner Kinder! Liebe Freund*innen! Liebe Kolleg*innen! Liebe Nachbar*innen! Liebe Passant*innen! Liebe POC!

Ich möchte mich hiermit bei Euch entschuldigen – für den Mord an George Floyd durch einen Polizisten, der meine Hautfarbe hat. Wie so viele POC in den vergangenen Jahren musste er aufgrund rassistischer Polizeigewalt sterben.

Ich möchte mich dafür entschuldigen, dass dieser und die vielen anderen Morde nun Eure Gedanken beherrschen und Euch schlaflose Nächte bereiten. Ich möchte mich dafür entschuldigen, dass Ihr Eure Sicherheit immer wieder bedroht seht.

Ich kann nicht ermessen, was es heißt, Rassismus zu erfahren. Ich bin weiß und habe zwar alle möglichen Arten von Benachteiligung erfahren – sei es wegen meines Geschlechts, meiner Kleidung oder wegen meines Daseins als Mutter. Doch niemals musste ich unter Rassismus leiden. Ich weiß nicht, was es heißt, aufgrund meiner Hautfarbe anders wahrgenommen zu werden. Deshalb kann ich auch nicht wirklich verstehen, was Ihr fühlt, wenn Ihr die Bilder von George Floyd seht. Für mich sind es grausame Bilder, die mich tief bewegen, wütend und traurig machen. Ich kann nicht glauben, dass auch heute – 57 Jahre nach der berühmten Rede von Martin Luther King – noch POC auf offener Straße hingerichtet werden. Und doch kann ich nicht ermessen, was Ihr fühlt, wenn Ihr diese Bilder seht.

Ich möchte mich für all die Kommentare von Freund*innen entschuldigen, die sagen, es sei die Schuld von Donald Trump. Sie machen es sich zu einfach, denn auch unter anderen Präsidenten sind immer wieder POC auf grausame Weise zu Tode gekommen.

Ich möchte mich für alle entschuldigen, die das Problem lediglich als US-amerikanisches sehen – nein, es ist ein strukturelles Problem, das wir auch in Deutschland haben. Auch hier leiden Menschen unter racial profiling und auch in der BRD müssen POC immer wieder unter Polizeigewalt leiden – man denke nur an Oury Jalloh, dessen Tod in einer Dessauer Polizeizelle noch immer ungeklärt ist.

Wir sind aufgewachsen mit dieser strukturellen Benachteiligung von allen, die aufgrund ihres Äußeren anders gelesen werden. Auch wenn wir es gerne leugnen würden und anderen die Schuld geben würden, sind wir Teil der Gesellschaft, in der wir aufgewachsen sind und leben. Für uns war Pippi Langstrumpfs Vater „Negerkönig“ und wir haben nicht darüber nachgedacht, wie es Euch bei der Lektüre dieses Romans wohl gehen mag. Thematisiert wurde das in der Schule nicht. Als Sternsinger haben wir uns die Gesichter angemalt, und welche Rolle der einzige Junge mit nicht-weißer Hautfarbe beim Krippenspiel in der Schule übernehmen musste, war auch klar. Immer wieder war Rassismus Teil unserer Erziehung und unserer Lebenswirklichkeit. Es ist Zeit, dass wir diesen Gegebenheiten ins Auge sehen, denn sonst können wir nichts daran ändern.

Ich möchte mich entschuldigen für die Fehler, die ich im Umgang mit Euch gemacht habe. Dafür, dass ich rassistisch war, ohne es sein zu wollen. Dafür, dass ich Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe vielleicht anders angesehen habe als Weiße. Dafür, dass ich ungefragt den Beginn von Chimamanda Ngozi Adichies Roman „Americanah“ zitiert habe, um mit Euch über Eure Haare zu sprechen. Dafür schäme ich mich.

Ich schäme mich auch für die Kommentare einer Freundin zu sexuellen Talenten von POC – und dafür, dass ich dazu geschwiegen habe und sie nicht darauf hingewiesen habe, dass das auch Rassismus ist.

Doch ich möchte und werde dazulernen und mich in meinem Denken weiter entwickeln. Ich möchte es mir nicht leicht machen, nicht schweigen und nicht wegsehen. Ich möchte nachlesen und mehr erfahren über Kolonialismus und Rassismus. Ich möchte bewusster werden und die richtigen Fragen stellen.

Ich möchte meine Kinder so erziehen, dass unsere Welt eine andere werden kann. Dass struktureller Rassismus kein Thema mehr sein wird. Dass sie Rassismus nicht hinnehmen, übergehen und schweigen, sondern ihren Mund aufmachen. Das möchte ich ihnen vorleben, Tag für Tag.

Ich fühle mit Euch, aber ich werde Euren Schmerz nie kennen. Deshalb bitte ich Euch, erzählt uns davon. Weist uns darauf hin, wenn wir uns unpassend oder gar rassistisch äußern, ohne es zu wollen. Lasst das Gespräch nicht abreißen, auch wenn es manchmal mühsam sein mag.

Wir möchten und können Eure Sache nicht zu unserer machen, aber wir möchten Euch gerne in Eurer Sache unterstützen und uns beteiligen und beitragen, was wir beitragen können. Wir werden weiterhin Seite an Seite mit Euch demonstrieren und laut rufen: „Black lives matter“. Wieder und wieder.

Ich wünsche mir, dass meine und Eure Kinder aufwachsen, ohne jemals Bilder wie die von George Floyds Ermordung sehen zu müssen.

Beim Schreiben dieser Zeilen habe ich schon – ohne es zu wollen – den nächsten Denkfehler gemacht: Ich bin davon ausgegangen, unsere Kinder, die Derartiges hoffentlich niemals zu Gesicht bekommen, könnten solche Bilder jemals annähernd mit den gleichen Augen sehen. Aber dem ist ja nicht so. Während Euer Kind auf der Straße liegen könnte, könnte meines das Arschloch sein, das auf seinem Genick kniet.

Alles, was in meiner Macht steht, werde ich dagegen tun. Alles. Es reicht nicht, zu posten, Reden zu halten und samstags zu demonstrieren. Hier stehe ich vor einer der großen Aufgaben des Alltags: Antirassistisch zu leben und zu denken – hier und jetzt, Tag für Tag, in meiner direkten Umgebung, in jedem Gespräch, bei jeder Begegnung.

Unser altes Leben oder Bernard Rieux?

Was macht der Mensch, dessen gewohntes Leben vor etwa acht Wochen jäh unterbrochen wurde? Der Mensch, der in die eigenen vier Wände verwiesen wurde, dort gearbeitet, gekocht, erzogen, Kontakte gehalten hat und nebenbei nicht verzweifelt ist?

Wenn es nach dem Willen der großen Tourismus-Konzerne geht, begibt er sich umgehend auf eine Mini-Kreuzfahrt durch die Nordsee und genießt dort das Bordleben, als hätte es keine Pandemie gegeben. Vielleicht kann er schon im Sommer wieder das Mittelmeer bereisen und spätestens nächstes Jahr doch endlich die abgesagte Karibik-Kreuzfahrt nachholen. Nach Aussagen der großen Tourismus-Konzerne hat sich die Zahl der Buchungen für 2021 jedenfalls verdoppelt.

Haben wir keine anderen Probleme? Und keine anderen Träume und Visionen?

Wie schon nach der Wirtschaftskrise 2008/2009 scheinen auch Politiker*innen nichts ändern zu wollen: Sie verhandeln über „Touristenkorridore“ und die schnelle Öffnung von Auto- und Warenhäusern. Es ist ja auch in Ordnung, wenn jeder Grundschüler*in die Schule dieses Schuljahr noch einmal von innen sieht. Für jüngere Kinder reicht es ja als Beitrag zur frühkindlichen Bildung aus, „die Sendung mit der Maus“ auf den öffentlich-rechtlichen täglich auszustrahlen. TUI und die Lufthansa sollen großzügig unterstützt werden, wohingegen vom bedingungslosen Grundeinkommen, das nun zahllosen Kulturschaffenden und prekär Beschäftigten helfen könnte, niemand mehr spricht. Damit teilen das bedingungslose Grundeinkommen und der Klimaschutz das gleiche traurige Schicksal – dabei böten sich ja gerade hier immense Chancen.

Wollten wir nicht unser Leben ändern? Uns auf das Wesentliche besinnen? Haben wir nicht alle erkannt, wie gut es sein könnte, mit weniger Stress, Konsumzwang und Umweltsünden zu leben? Wollten wir nicht geläutert aus dieser Krise gehen und unser Freizeitverhalten zugunsten des Klimaschutzes dauerhaft ein wenig anders gestalten? Und sollten Politiker*innen nicht auch Zukunftsträume haben, die über ein „Hochfahren“ Wirtschaft hinausreichen?

Schon bei den ersten vollmundigen Behauptungen dieser Art zu Beginn der Krise, hatte ich Zweifel und diese scheinen sich jetzt zu bewahrheiten. „Ich will mein altes Leben zurück“, skandieren die Demonstranten, die Wochenende für Wochenende zusammenkommen, um gegen die Einschränkungen der Grundrechte (und teilweise noch für oder gegen ganz andere zweifelhafte Dinge) zu demonstrieren.

Bitte nicht falsch verstehen: Ich würde es mir so sehr wünschen, dass die Menschheit die Corona-Krise als Wendepunkt zu nutzen weiß und sich von einem dem Konsumismus verhafteten Leben lösen kann und es schafft, neue Ideale zu entwickeln und zu leben.

Trotzdem fürchte ich, dass Felix Lobrecht die Wahrheit sagt, wenn er in der Süddeutschen Zeitung die Zeit nach Corona mit den Tagen nach einem Trinkgelage vergleicht: „Man wacht sonntags sehr verkatert auf, denkt sich: `Ick trink nie wieder´ – und spätestens Mittwoch plant man schon, wo man sich am Freitag zum Vorsaufen trifft.“

Wem das jetzt zu banal ist, dem liefert vielleicht das Buch der letzten Wochen „Die Pest“ von Albert Camus eine Antwort auf die Frage, wie das Leben nach der Pandemie sein wird:

In Camus‘ Roman geht es allerdings nicht um eine Pandemie, denn nur die Stadt Oran und ihre Bewohner sind von der Pest betroffen und von der Außenwelt abgeriegelt. Einer der ersten, der die Pest erkennt und im Folgenden bekämpft, ist der Arzt Bernard Rieux. Am Schluss des Romans ist er derjenige, der den Menschen beim Feiern zusieht und erkennt, dass sie sich nicht geändert haben. Schon beim Freudenfeuerwerk sind die Toten vergessen. Die Feierlichkeiten sind ein Fest der Erleichterung und der Befreiung – kein Fest der Revolte. Menschen sind Menschen und vielleicht gehört das Vergessen und das Festhalten an Vertrautem und lieb Gewordenem zu uns. Rieux genießt diesen Wesenszug der Menschen. Einerseits. Andererseits beschließt er in dieser Nacht, das Erlebte aufzuschreiben, um an die Toten und die erfahrenen Ungerechtigkeiten zu erinnern. Und natürlich daran, dass die Pest immer noch da ist und die Menschen jederzeit wieder befallen kann.

Der Mensch ist beides – natürlich haben wir alle auf Dinge verzichtet, die wir gerne zurück haben möchten. Manche davon machen unser Leben sogar ein Stück weit aus. Dennoch ist es nicht verkehrt, ein bisschen Bernard Rieux zu sein, zu mahnen und an die Krise und das, was wir daraus lernen wollten, zu denken. Neue Herausforderungen werden auf uns zukommen – sei es die zweite Corona-Welle im Herbst oder die Klima-Krise und deren Auswirkungen. Behalten wir Rieux – bei aller Freude über Mini-Kreuzfahrten und geöffnete Biergärten – irgendwo in unseren Hinterköpfen!

Zeit für eine Corona-Liste…

Was ich vermisse:

  • die zufälligen Gespräche und geteilten Momente mit Fremden
  • das Kribbeln im Bauch, wenn man abends loszieht und nicht weiß, wie die Nacht wird
  • spontane Pausen im Café und die dortige Geräuschkulisse
  • die Vorfreude auf eine konkret geplante Reise
  • das Gefühl, sich nach einem langen Tag auf zu Hause zu freuen
  • den besten Falafel-Teller der Stadt
  • Freunden leibhaftig gegenüber zu sitzen
  • die theoretische Möglichkeit, mit dem TGV jederzeit kurz mal nach Paris fahren zu können
  • das Wochenende

Was ich nicht vermisse:

  • den Stress am Morgen
  • unendliche Meetings und Konferenzen, in denen ich nur sitze, weil sie irgendwann angesetzt wurden
  • das Gefühl, nie Zeit zu haben, wenn jemand anruft
  • überfüllte S-Bahnen
  • Tage, an denen ich die Kinder kaum sehe

Was ich nicht vergessen werde:

  • das unglaubliche Blau des Himmels – bedingt durch besondere Witterungsverhältnisse und die fehlenden Emissionen
  • wie privilegiert ich bin
  • die Endzeitstimmung, die in den Tagen vor den verhängten Kontaktbeschränkungen schon überall greifbar war
  • die Bilder von rollenden Militärfahrzeugen, die die Leichen aus italienischen Krankenhäusern abholen
  • die Begrenztheit unserer Macht
  • dass Erinnerungen und ein reiches Innenleben das beste Heilmittel gegen Fernweh sind
  • wie schön blühende Bäume sind (und wie schnell diese Blüte vorüber geht)
  • was Erzieher*innen Tag für Tag leisten
  • in welch unglaublichem Wohlstand wir leben

Was mich überrascht hat:

  • die Anrufe von Leuten, von denen ich gar nicht wusste, dass sie wissen, dass ich noch lebe
  • dass die Kinder nicht mehr ferngesehen haben als sonst
  • dass ich keine Zeit hatte, mich zu langweilen
  • dass ich abends todmüde ins Bett gefallen bin, obwohl ich nur zu Hause war
  • dass mein Mann und ich uns gut verstehen, auch wenn wir 24/7 zusammen sind

Von heimlichen Preppern und Denunzianten – Was Corona mit den Menschen macht

Ja, in diesen Zeiten lernst du deine Mitmenschen noch einmal ganz neu kennen. Angesichts der Pandemie zeigt sich ganz klar, wer besonnen bleibt, wer Angst hat und wer gar zur Hysterie neigt. Bei vielen meiner Mitmenschen entdecke ich komplett neue Züge, völlig unvermutete Charaktereigenschaften und Schrullen. Bei anderen zeigt sich nun deutlich, was wohl irgendwo schon immer versteckt war. Manche Verhaltensweisen bringen mich zum Lachen oder zum Staunen und manche hätte ich lieber nie bemerkt.

Eher durch ratio aufgefallene, intelligente und immer gut informierte Freund*innen, die sich täglich durch zwei seriöse Zeitungen pflügen, hängen auf einmal Verschwörungstheorien an und haben Bill Gates in Verdacht, das Virus gezüchtet zu haben, um uns mittels Impfpflicht endlich alle hörig zu machen. Oder so ähnlich.

Bislang total harmlos wirkende Kita-Vatis entpuppen sich als knallharte Prepper, die seit Jahren fertig gepackte, entsprechend equippte Rucksäcke im Keller stehen haben und sich nun ernsthaft daran aufgeilen, diese endlich einmal benutzen zu können. Mir wird schlecht, wenn sie davon phantasieren, wie sie ihre Familien (und nur diese!) in den Wäldern Thüringens durchbringen wollen. Sie scheinen soviel Zufriedenheit daraus zu ziehen, so gut vorbereitet zu sein und schon immer alle Eventualitäten bedacht zu haben, dass sie es nun möglicherweise schade finden, dass – zumindest dieses Mal – ihre liebsten Apokalypse-Romane wohl nicht real werden.

Andere Eltern, die ich immer als Über-Vatis und Über-Muttis wahrgenommen und insgeheim bewundert habe, verlieren gerade an Glanz, gewinnen aber Sympathiepunkte durch bestechende Ehrlichkeit. Basteleien? Ausflüge in die Natur? Backaktionen? Fehlanzeige. Sie gestehen ganz offen, dass es bei ihnen nur noch darum geht, den Tag ohne riesige Katastrophen durchzustehen und starten Unterschriftenaktionen, um die Gemeinden dazu zu bringen, die Notbetreuung in den Kindergärten endlich zu erweitern.

Lebenslustige Freund*innen, deren bislang größte Furcht darin bestand, am Wochenende etwas zu verpassen, haben nun plötzlich Angst um ihr Leben. Jedes Angebot, zu zweit mit Sicherheitsabstand an der frischen Luft spazieren zu gehen, schlagen sie seit Wochen konsequent aus, auch wenn es ihnen schwer fällt. Einst haben ihnen Nächte im Club den Schlaf geraubt, jetzt ist es die Sorge.

Meine Kollegin, die immer so adrett angezogen, beneidenswert manikürt und stets perfekt geschminkt ist, sehe ich nur noch hinter einer überdimensionalen FFP2-Maske und mit Gummihandschuhen. Pflicht besteht keine am Arbeitsplatz, aber sie tut es, weil sie meint, sie sei es uns schuldig. Das finde ich süß, auch wenn sie mir manchmal leid tut, weil es nicht ganz unanstrengend ist, derart ausgerüstet zu arbeiten.

Weniger süß sind all die Denunzianten, die es gerade nicht aushalten, dass andere Spaß haben oder die Kontaktbeschränkungen aus anderen Gründen nicht so genau einhalten. Das tut diesen Leuten besonders weh, denn seit Wochen achten sie ja darauf, wirklich jeden Tipp von Drosten und jede Regel von Söder ganz genau umzusetzen. Sie singen zweimal Happy Birthday beim halbstündlichen Händewaschen, ihr Desinfektionsgel baumelt immer am Rucksack, sie verzichten permanent. Und jetzt das: Nachbarn grillen einfach zusammen im Garten! Kinder kriechen unter dem Absperrband am Spielplatz durch und schaukeln! Sie greifen zum Telefon, rufen die Polizei und fühlen sich wie Superhelden. Plötzlich scheint der Ernst der Situation es zu rechtfertigen, sich in das Leben anderer einzumischen. Leider hat diese Spezies ja eine lange Tradition in Deutschland…

Wir Menschen sind doch seltsame Wesen – facettenreich und wandelbar und immer für Überraschungen gut. Wie tief sind unsere Abgründe! Werden wir unsere „neuen“ Charakterzüge beibehalten? Werden wir wieder die alten, wenn die Pandemie abklingt? Geht das überhaupt so einfach? Wird uns mit den Lockerungsregeln auch ein Fahrplan geliefert, wie wir nach Corona mit dem Nachbarn umgehen sollen, der spielende Kinder verpetzt hat?

Die neue Freiheit

Die Fotografin Nanna Heitmann schreibt in der Süddeutschen Zeitung, dass es in Zeiten wie dieser kleine Ausbrüche brauche und sie gesteht, dass sie sich mithilfe des Internets beigebracht hat, verschlossene Türschlösser zu öffnen, um verbotenerweise das Dach ihres Moskauer Wohnhauses betreten zu können. So gelingt es ihr, die sehr strengen Moskauer Ausgangsbeschränkungen zu umgehen.

So weit bin ich noch nicht gegangen, aber auch ich träume von heimlichen kleinen Ausbrüchen aus der Enge des Familienverbands und aus der Begrenztheit der eigenen vier Wände.

Ich stelle mir beispielsweise vor, dass ich mir im Supermarkt um die Ecke meine Lieblingsschokolade kaufe, eine ganze Tafel. Dann verstecke ich mich hinter dem Häuschen, in dem die Einkaufswagen geparkt werden, um die Schokolade zu essen, ohne teilen oder mich rechtfertigen zu müssen. Sonne im Gesicht und den Mund voller Zartbitterschokolade.

Wie tief bin ich gesunken? Ich komme mir ganz erbärmlich vor, doch gleich mehrere Träume dieser Art bevölkern meinen von der Pandemie aufgeweichten Kopf.

Anstatt nur kurz Brot zum Frühstück zu kaufen, bestelle ich mir in diesen Träumen beim Bäcker auch einen Coffee-to-go und setze mich damit auf die Bank beim Altglascontainer und genieße den ersten Kaffee des Tages in Ruhe. Vielleicht hole ich mir sogar eine Zeitung und bleibe länger sitzen und es wird mir fast so vorkommen, als säße ich im Café.

Wünsche, die ich früher nicht hatte, tauchen auf. Meine Träume sind zusammengeschmolzen und Freiheit hat hat eine ganz andere Bedeutung als vor Corona. Was mir früher im Traum nicht eingefallen wäre, scheint heute verlockend und jede Abwechslung vom neuen Corona-Alltag ist pures Glück. Endlich verstehe ich, was mit „kleinem Glück“ überhaupt gemeint ist. Was früher Langeweile bedeutete, verheißt heute Rebellion.

Einen Ausbruch habe ich schon gewagt, und er war banal und besonders zugleich: Als nachts die Kinder schliefen, wir aber noch nicht schlafen konnten, bin ich mit meinem Mann durch die leeren Straßen spaziert, um die Sterne zu betrachten. Das haben wir schon sehr lange nicht mehr gemacht. Es war romantisch und exotisch, dabei ist uns unsere Straße tagsüber so vertraut. Wir begegneten einer Katze mit funkelnden Augen und vereinzelten Pärchen, die kichernd durch die Straßen gingen. Sie schienen von Parties zu kommen oder gemeinsam auf Parkbänken eine Flasche Wein geleert zu haben – vielleicht auch ein Ausbruch?

Zum Schulstart nach Corona

Endlich wieder Schule! Nach einer mehrwöchigen Zwangspause, von den Schüler*innen – allerdings vor den Kontaktverboten – freudig „Corona-Ferien“ genannt, dürften mittlerweile einige die Rückkehr ins Klassenzimmer geradezu herbeisehnen.

Anders als von der Leopoldina geraten (und in vielen Ländern so praktiziert) sollen in Deutschland nicht zuerst die jüngeren Schüler*innen an die Schulen zurückkehren, sondern die, denen dieses oder nächstes Jahr Abschlüsse bevorstehen. Damit werden Prüfungen und Leistungen in den Vordergrund gerückt, das gemeinsame Lernen und die Lehrenden als Bezugspersonen stehen dahinter zurück.

Kitas und Kindergärten bleiben vorerst geschlossen, aber zum Glück beginnt kindliches Lernen ja auch erst pünktlich mit dem Eintritt in die erste Klasse…

Wie genau die allmähliche Rückkehr in einen Schulalltag aussehen soll, planen nun die Länder, zu deren Hoheit ja Bildungsangelegenheiten gehören, im Detail. Nur eines steht dabei fest: Es sollten sich maximal 15 Kinder in einem Klassenzimmer befinden. Damit haben Virologen das geschafft, was Pädagogen und Schulforscher seit Jahren raten, damit gerade schwächere Schüler*innen besser lernen können. Welche Klasse wo, wie und mit wem beginnt, und wie das Ganze organisatorisch ablaufen soll, bleibt genauso offen wie die Platzierung der Seifenspender und der Warmwasseranschlüsse in den maroden Schultoiletten.

Eine wilde Idee hätte ich zur geregelten Rückkehr beizutragen: Montags und freitags könnten alle Schüler*innen kommen, bei denen es zu Hause statt Unterstützung nur Stress, Geschrei und Gewalt gibt. Dienstags und donnerstags die, die mit mehreren Geschwistern in Wohnungen leben, die kleiner als 80 Quadratmeter sind und kein eigenes Endgerät zur Verfügung haben. Der Freitag ist dann für diejenigen reserviert, die massiven Nachholbedarf haben oder wegen ihrer Konzentrationsprobleme die klaren Abläufe in der Schule brauchen, um einen Zustand zu erreichen, in dem überhaupt an Arbeiten zu denken ist.

Endlich reden wir über Schule und über die Bildungsungerechtigkeit, die in Deutschland unbestritten herrscht. Das könnte tatsächlich eine Gelegenheit sein, über grundsätzliche Probleme und mögliche Lösungen nachzudenken. In diesem Kontext wäre auch zu überlegen, was Schulen eigentlich sind: Dienen sie der Verwahrung von Kindern, damit Eltern ihren Berufen nachgehen können? Vermitteln sie Bildung und Kompetenzen? Geht es hier um den Erwerb von Wissen? Oder produzieren Schulen Abschlüsse? Sollen sie Kinder aus schwierigen Verhältnissen auffangen? Schüler*innen ein soziales Miteinander und Begegnungen ermöglichen? Wahrscheinlich sind sie all das und noch ein bisschen mehr. Wenn ihnen solch eine Bedeutung zukommt, wäre es sicher sinnvoll auch nach der Pandemie über Schulen und die Bedingungen, unter denen Kinder lernen, nachzudenken und hier Geld zu investieren.

Über Gerechtigkeit

Zu Beginn der Krise sah ich noch einen Hauch Gerechtigkeit: Jetzt trifft es alle. Wirklich jeder muss zu Hause bleiben. Ich hielt eine Pandemie für eine ziemlich demokratische Sache: Egal, ob arm oder reich, ob alt oder jung, ob hässlich oder schön – alle Menschen hüten das Haus, alle stehen vor denselben Problemen, das Leben aller ist erschüttert. Und zwar weltweit. Jeden trifft es, jeder muss seinen Terminkalender mit Tipp-Ex bearbeiten und Pläne verwerfen, Vorfreude begraben. Alle sitzen zu Hause und sind gefährdet. Dieses Mal trifft es auch die Menschen, die Geld und Macht haben. Auch sie können sich nicht mehr frei bewegen. Geld macht es auch ihnen nicht möglich, durch die Clubs zu ziehen, im Konzert zu sitzen oder die Welt ohne Einschränkungen zu bereisen.

Das hatte etwas Tröstliches, war aber entsetzlich naiv. Schnell merkte ich, dass auch eine Pandemie Unterschiede kennt und macht: Es ist anders, in einer 140 Quadratmeter großen Wohnung zu sitzen als in einem Einzimmer-Appartement. Es ist anders, wenn jemand Freiräume hat, um jeden Tag stundenlang Pilates zu machen und sich nebenher durch Marie-Kondo-mäßiges Ausmisten neue Freiräume schafft. Es ist leichter, wenn man zu denen gehört, die kleine Kaffeeröstereien und Buchgeschäfte durch großzügige Bestellungen unterstützen können, und nicht zu denen, die wegen existenzieller Sorgen und Nöte nicht mehr schlafen können und nicht wissen, wie lange die Ersparnisse noch reichen.

Schon hier ließe sich eine Liste der Ungerechtigkeiten anlegen, die sich gewaschen hat – und da haben wir noch gar nicht an diejenigen gedacht, die in reichen Industrieländern am äußersten Rand leben und schon gar nicht an Entwicklungs- oder Schwellenländer, in denen ein Großteil der Menschen in absoluter Armut leben muss.

Schon in den wohlhabenden Industrieländern wie z.B. in den USA sind die Unterschiede schockierend: Afroamerikaner gehören weit häufiger zu den Todesopfern von Covid – 19 als Weiße, weil sie oft deutlich schlechter versichert und damit medizinisch versorgt sind. Zudem arbeiten sie oft in systemrelevanten Berufen, sind beispielsweise vielfach als Pfleger*innen tätig und stecken sich so öfter an.

Aber jetzt einmal ehrlich: Wir wissen doch schon lange, dass Afroamerikaner in den USA und andernorts strukturell benachteiligt sind.

Ihre Armutsquote ist weit höher und sie landen bei gleichen Vergehen viel schneller in US-Gefängnissen als Weiße und werden häufiger zum Tode verurteilt. Wir wissen auch, dass Schwarze in den USA manchmal völlig ungerechtfertigt Opfer von Polizeigewalt werden, immer wieder sterben unschuldige Afroamerikaner durch Polizistenhand. Diese Liste an Missständen ließe sich fortsetzen und neu sind diese himmelschreienden Ungerechtigkeiten wahrlich nicht.

Um Leben und Tod geht es in der deutschen Bildungslandschaft zwar nicht, aber hier werden Lebenschancen vergeben. Chancen auf Bildung, Entwicklung der Persönlichkeit und einen guten Schulabschluss, der es ermöglicht, sich mit Dingen zu beschäftigen, die einen erfüllen und einem später ein Auskommen ermöglichen. Auch hier herrscht bekanntermaßen große Ungerechtigkeit – leider ist sie erst jetzt in aller Munde: Länger sollen die Schulen nicht geschlossen bleiben, weil schwächere Schüler*innen, die zu Hause wenig Unterstützung erfahren, sonst abgehängt würden. Dabei sind sie längst abgehängt! Auch ohne die Zwangspause wegen des Corona-Virus haben viele Kinder niemanden, der Elternabende besucht und den Kontakt zu Lehrer*innen sucht. Viele Eltern sind zu sehr in eigenen Problemen gefangen, um sich für Sorgen, Nöte oder Schulerlebnisse ihrer Kinder zu interessieren. In vielen Familien spricht keiner gut genug Deutsch, um den Kindern beim Lernen zu helfen und teure Nachhilfestunden sind oftmals nicht drin. Ein ruhiger Arbeitsplatz und eine entspannte Lernatmosphäre gibt es in vielen Elternhäusern nicht.

Wir kennen die Ergebnisse von Untersuchungen, die bestätigen, dass in Deutschland der Bildungserfolg nachweislich von der sozialen Herkunft abhängt. Wir haben es hingenommen, viel zu wenig darüber gesprochen und noch weniger getan, um das zu ändern. Corona legt den Finger nun in alte Wunden und zeigt nur, was vorher schon da war.

Die Pandemie macht die Verhältnisse nicht ungerecht, sie sind es. In dieser Hinsicht ist also nicht die Krise das Problem, die Probleme hatten wir schon vorher. Was uns offensichtlich gar nicht so sehr auffällt, wenn unser Leben funktioniert, tritt nun umso deutlicher zu Tage. Gleichzeitig zeigt sich dadurch auch, dass wir Ungerechtigkeiten akzeptiert und im Alltag hingenommen haben. Nun werden diese Ungerechtigkeiten teilweise sogar lebensgefährlich für diejenigen, die tagtäglich davon betroffen sind.

Was sich jetzt zeigt, sollte ein Aufruf an uns alle sein, immer und jederzeit – auch und gerade dann, wenn alles wie gewohnt läuft, wachsam zu sein, Ungerechtigkeiten wahrzunehmen und nicht müde zu werden, dagegen zu kämpfen. Seien die Ungerechtigkeiten auch noch so klein. Irgendwann könnten diese Unterschiede tatsächlich über Entwicklung und berufliches Fortkommen oder sogar über Leben und Tod entscheiden. Rückkehr zur Normalität heißt nicht, dass die Ungerechtigkeiten einfach verschwinden, denn sie waren ja schon vor der Krise da. Wir dürfen die Ungerechtigkeiten nicht vergessen. Ändern lassen sich strukturelle Ungerechtigkeiten nur dann, wenn wir alle dagegen kämpfen – auch in „normalen“ Zeiten.

Sehnsucht nach…

Reisen und Neues entdecken – zwei der größten Leidenschaften meines Lebens, die sich leider derzeit nicht leben lassen. Doch die Sehnsucht bleibt. Genauso wie die Erinnerungen und die Vorfreude. Beides nicht verboten! Ich träume zur Zeit oft von den Orten, an denen ich schon war und die ich unbedingt noch einmal bereisen möchte. Welche das wären?

Das zauberhafte Paris! Stadt der großen Boulevards und der Straßencafés! In meiner Jugend hatte ich das unverschämte Glück, einige Zeit in Paris zu leben und seitdem bekomme ich diese Stadt nicht mehr aus meinem Kopf. Ich könnte hier ewig in Bars sitzen und den Menschen zusehen, stundenlang durch Museen streifen oder durch die Straßen flanieren und über die verschwenderische Schönheit dieser Stadt staunen. Wenige Stunden im TGV trennen uns und bis vor wenigen Wochen wäre es für mich undenkbar gewesen, dass Paris jemals unerreichbar weit weg sein könnte…

Blick vom Dach des Musée d’Orsay – wenn man nur ein Pariser Museum besuchen dürfte…

So vegan is(s)t Paris

Als ich noch in Paris wohnte – das ist etwa 15 Jahre her – musste ich mich noch permanent für mein (damaliges) Dasein als Vegetarierin rechtfertigen und stieß auf viel Unverständnis. So hat mich das breite Angebot an veganen Restaurants dieses Mal wirklich begeistert.

Meine Lieblinge:

Aujourd’hui et demain (rue du chemin vert, 11ème arrondissement, Metro chemin vert): Ein veganer Concept-Store – Café, Supermarkt, faire und vegane Mode – alles da! Zudem ein Treffpunkt des jungen, hippen Paris. Lecker sind vor allem die Kuchen!

Sol Semilla (rue des vinaigriers, am Canal St. Martin): Dieses süße Restaurant hat sich veganem Superfood verschrieben. Hier gibt es Bowls mit außergewöhnlichen Zutaten, die nichts mit der faden Standardbowl zu tun haben, die Veganern sonst gerne vorgesetzt wird.

Le pain quotidien (z.B. rue des archives im Marais oder rue de Charonne, 11ième arrondissement): Diese Kette hat mehrere Filialen in Paris und bietet für Veganer superleckere Frühstücksoptionen (Porridge mit frischem Obst, Hibiskus-Croissant, Kokosyoghurt mit Cashewcreme, Ananas und Melone…)

Quoi de neuf à Paris?

Auch für Ortskundige gibt es neue Sachen, die besucht werden wollen:

Ground Control (81, rue du Charolais, Metro Gare de Lyon, 12ième arrondissement): Auf einem stillgelegten Teil der Gare de Lyon ist ein alternativer Marktplatz entstanden. Es gibt jede Menge Foodtrucks, einen eigenen Radiosender, eine Boutique, in der sich besondere Souvenirs finden lassen und immer wieder DJ-Sessions oder Konzerte. Wer genug hat vom Sight-Seeing kann sich hier in einem Liegestuhl ausruhen und all den coolen Menschen zugucken!

Außenbereich Ground Control

Fondation Louis Vuitton (8, avenue du Mahatma Gandhy, Metro Les Sablons, 16ième arrondissement, direkt beim jardin d’acclimatation): Nein, hier werden keine Koffer ausgestellt, sondern seit 2014 zeitgenössische Kunst vom Feinsten! Da sich diese nicht immer auf den ersten Blick erschließt, gibt es Micro-Führungen, die etwa 15 Minuten dauern und sich immer nur einzelne Bilder oder Kunstwerke vornehmen. Wer Französisch kann, erfährt hier richtig viel und es macht Spaß sich immer wieder verschiedenen Kunstvermittlern anzuschließen, die unterschiedliche Schwerpunkte setzen. Aber auch ganz ohne Gemälde (z.B. von Richter, Kusama, Nick Mauss) würde sich ein Besuch lohnen, denn das bedeutendste Kunstwerk ist hier ohne Zweifel das Museumsgebäude des Architekten Frank Gehry. Eine unglaubliche Konstruktion aus Holz, Eisen und Glas, die Licht und Wasser wie selbstverständlich in den Bau einfügt. Wirklich sehenswert!

Sitzen, beobachten und genießen

Eine Krise ist kein Lifestyle-Experiment

Ich bin es leid. Es geht mir auf die Nerven, dass mir jeder erzählt, was ich aus dieser Krise lernen soll, und wie viel besser die Welt hinterher sein wird. Ununterbrochen sprechen Freund*innen und Bekannte, aber auch Coaches und Blogger*innen darüber, wie wir uns nun auf das Eigentliche besinnen können, Zeit für das haben, was wir schon immer machen wollten und wie nebenbei die Erde heilt. Wenn man ihnen Glauben schenkt, wird nie wieder jemand eine Kreuzfahrt machen, alle werden solidarisch mit Alten und ihren Nachbarn sein, mit denen sie früher über Kreuz lagen, und nach fünf Wochen Homeschooling versteht jeder seine Kinder. Alle werden als bessere Menschen gestählt aus der Krise gehen – es fällt mir nicht ganz leicht, das zu glauben.

Es stört mich, dass diese „Corona-Krise als Retreat-Haltung“ nur die ohnehin schon privilegierten Menschen einschließt.

Die, die nicht Angst um ihre Existenz haben müssen und jetzt bequem von zu Hause aus arbeiten können oder sichere Jobs haben. Die, die nicht in einer winzigen Wohnung mehrere Kinder betreuen und beschulen müssen. Die, die genügend Rücklagen haben, um Krisen zu überstehen und nicht ohnehin schon von Hartz IV leben. Die, die sowieso immer unterwegs sind und es daher gut verkraften, wenn ihr Radius jetzt einmal eingeschränkt ist. Entschleunigen können nur die, deren Leben vorher abwechslungsreich, bunt und bewegt war.

Nicht die Suchtkranken, die jetzt aus Langeweile und aus Mangel an Alternativen und Therapieangeboten noch mehr konsumieren. Nicht die Frauen und Kinder, deren Heim nur ein Ort des Schreckens ist, an dem sie nicht sicher sind. Nicht die Obdachlosen, die schutzlos sind und auf der Straße kein Social Distancing leben können. Was tun, wenn dir alle sagen „bleib zu Hause“ und du hast gar kein Zuhause? Oder keines, das diesen Namen verdient?

Zahlreiche weitere Gruppen ließen sich aufzählen, die der Situation absolut nichts Positives abgewinnen können. Ganz zu schweigen von Menschen in Ländern wie Indien, in denen das Virus auch grassiert, oder Menschen, die in Flüchtlingslagern festsitzen.

Natürlich spricht einiges dafür, immer das halb volle Glas zu sehen, aber manche Dinge sind einfach nicht schön und auch nicht schönzureden. Manche Menschen hängen an Beatmungsgeräten und werden sterben. Viele werden liebe Menschen verlieren. Wohin sich unser aller Leben entwickeln wird, bleibt ungewiss. Unsere Grundrechte sind eingeschränkt.

Angesichts all dessen darf man die Dinge ruhig so bezeichnen, wie sie sich darstellen. Auch als Menschen der Postmoderne dürfen wir zugeben, dass wir Angst haben und nicht wissen, wie es weiter gehen wird. Vielleicht geht es gar nicht immer steil nach oben und vorwärts. Vielleicht stagnieren wir sogar oder machen Rückschritte und wir müssen auch nicht immer an uns wachsen. Und angesichts einer Pandemie, die gerade die ganze Welt in ihren Grundfesten erschüttert, dürfen wir das ruhig auch laut aussprechen.

Nicht für jeden bedeutet die Corona-Krise Entschleunigung

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