Seit Jahren treibt mich das Thema Rassismus um. Ich habe Alice Hasters, Reni Eddo-Lodge, Angie Thomas und Ta-Nehisi Coates gelesen. Ja, wirklich gelesen, Seite für Seite und nicht auf irgendeine „Vielleicht-irgendwann-mal-sichten-Liste“ geschrieben. Ich verehre James Baldwin und das schon schon lange, und ich weiß, dass auch Deutschland eine Kolonialgeschichte aufzuarbeiten hat.
Doch erst jetzt, im Zuge der Ermordung George Floyds, habe ich ein Post zu strukturellem Rassismus gegen POC geschrieben. Wie so viele andere, die derzeit dazu bloggen, Lesetipps geben und sich im Netz solidarisch zeigen wollen. Das hat vielen Blogger*innen jedoch Kritik eingebracht, denn schon längst hätte die Leserschaft ein eindeutiges Bekenntnis erwartet. Schließlich werden in den USA seit Jahren immer wieder POC Opfer von Polizeigewalt. Und nicht nur das: Struktureller Rassismus ist ein ernst zu nehmendes Problem, auch hier in Deutschland. Man wirft Blogger*innen und Prominenten vor, sie meinten es nicht ernst, wenn sie sich erst jetzt offen positionieren. Es scheint vielen so, als würden sie lediglich posten, ohne nachhaltig etwas ändern zu wollen, ohne sich eigene Gedanken zu machen, einfach weil es derzeit Trend ist.
Auch die – meist sehr jungen – Demonstrant*innen, die Demos der „Black Lives Matter – Bewegung“ besuchen, sehen sich in den sozialen Medien und in der Presse bisweilen Vorwürfen ausgesetzt: Sie gingen nur auf die Straßen, weil durch die Zwangspause so lange nichts los gewesen sei, und es herrsche eine viel zu fröhliche Stimmung. Außerdem seien sie ja ohnehin nur da, um durch Photos vor Protestplakaten, eine coole Instastory zu kreieren.
Und wenn es so ist? Was spricht dagegen, dass Anti-Rassismus Mainstream wird? Wäre das nicht wünschenswert und längst überfällig? Wenn nur einzelne Blogger*innen oder Demonstrant*innen jetzt wirklich Alice Hasters oder Reni Eddo-Lodge lesen, dann ist das doch schon ein Gewinn.
Auch wenn Demonstrant*innen aus vermeintlich falschen Motiven auf die Straße gehen, sind sie doch da, werden gesehen, motivieren andere und werden vielleicht – durch die manchmal sehr bewegenden Kundgebungen – zu einer echten Auseinandersetzung mit Rassismus – auch im eigenen Kopf – gebracht.
Es wäre doch viel schockierender, wenn angesichts der schrecklichen Bilder von George Floyds Ermordung alle ruhig blieben. Wer sich jetzt nicht klar bekennt, hat kein Herz oder steckt schon ganz tief drin im rassistischen Sumpf – was wahrscheinlich das Gleiche ist.
Erst warfen Erwachsene jungen Menschen vor, sie seien völlig unpolitisch und nur an ihrer eigenen kleinen Welt interessiert. Sobald sich Jugendliche freitags anstatt in der Schule auf öffentlichen Plätzen versammelten, um auf die Klima-Krise aufmerksam zu machen, sagten andere ihnen nach, sie seien Schönwetter-Demonstrant*innen, die nur auf die Straße gingen, wenn deshalb Latein-Unterricht und Mathe-Arbeiten ausfielen. An damals geäußerte Kritik erinnern mich manche der Vorwürfe, die heute laut werden, wenn junge Menschen sich auf deutschen Straßen für die Belange der POC einsetzen.
Ein weiterer – meiner Meinung nach allerdings deutlich berechtigterer – Vorwurf, beispielsweise von Jagoda Marinić in der Süddeutschen Zeitung geübt, ist der, dass für George Floyd jetzt alle das tun, was sie bei Enver Şimşek und anderen muslimischen Opfern des Rassismus nicht oder nicht in ausreichendem Maße getan haben. Es trifft leider zu, dass hier Vieles versäumt wurde, und dass nach Bekanntwerden der NSU-Morde und der zugehörigen Ermittlungspannen kein echtes „Wir-gegen-den-Rassismus-Gefühl“ entstanden ist. Der Aufschrei, der damals durch die deutsche Bevölkerung ging, blieb vergleichsweise leise. Anti-muslimischer Rassismus war und ist jedoch ein großes Problem in der BRD und natürlich sind muslimische Minderheiten die größten in Deutschland. Diese und weitere Minderheiten haben eine echte Auseinandersetzung mit Vorurteilen ihnen gegenüber und z.B. mit anti-muslimischen, antisemitischen und antiziganistischen Traditionen in der BRD verdient. Hier gibt es so viel aufzuarbeiten und zu tun!
Aber sollen jetzt alle zu Hauses bleiben, weil sie damals ein entschlossenes Auftreten gegen Rechts versäumt haben? Viele der heutigen Demonstrant*innen waren im Jahre 2000, als Enver Şimşek erschossen wurde, noch gar nicht geboren. Es ist eine andere Generation, die das versäumt hat und jetzt nicht wieder etwas versäumen sollte.
Wie so oft, ist es doch so, dass man irgendwo und irgendwann einfach mal anfangen muss, damit sich dauerhaft etwas in den Köpfen ändern kann. Wir wollen doch alle besser werden und uns solidarischer zeigen – allen Minderheiten gegenüber.
Aber warum müssen sich jetzt die rechtfertigen, die aufstehen? Die sich samstags versammeln und im Netz gegen Rassismus anschreiben? Warum müssen sich junge Menschen, die möglicherweise zum ersten Mal in ihrem Leben auf Demonstrationen gehen und sich mit ihren Privilegien auseinandersetzen, Vorwürfe anhören?
Schlimmer als „falsch“ zu demonstrieren, weil nicht alle Minderheiten ausreichend mit einbezogen werden, ist immer noch eines: zu Hause bleiben und gar nichts tun.