Lieber ehemaliger Mitschüler! Liebe Erzieherin meiner Kinder! Liebe Freund*innen! Liebe Kolleg*innen! Liebe Nachbar*innen! Liebe Passant*innen! Liebe POC!
Ich möchte mich hiermit bei Euch entschuldigen – für den Mord an George Floyd durch einen Polizisten, der meine Hautfarbe hat. Wie so viele POC in den vergangenen Jahren musste er aufgrund rassistischer Polizeigewalt sterben.
Ich möchte mich dafür entschuldigen, dass dieser und die vielen anderen Morde nun Eure Gedanken beherrschen und Euch schlaflose Nächte bereiten. Ich möchte mich dafür entschuldigen, dass Ihr Eure Sicherheit immer wieder bedroht seht.
Ich kann nicht ermessen, was es heißt, Rassismus zu erfahren. Ich bin weiß und habe zwar alle möglichen Arten von Benachteiligung erfahren – sei es wegen meines Geschlechts, meiner Kleidung oder wegen meines Daseins als Mutter. Doch niemals musste ich unter Rassismus leiden. Ich weiß nicht, was es heißt, aufgrund meiner Hautfarbe anders wahrgenommen zu werden. Deshalb kann ich auch nicht wirklich verstehen, was Ihr fühlt, wenn Ihr die Bilder von George Floyd seht. Für mich sind es grausame Bilder, die mich tief bewegen, wütend und traurig machen. Ich kann nicht glauben, dass auch heute – 57 Jahre nach der berühmten Rede von Martin Luther King – noch POC auf offener Straße hingerichtet werden. Und doch kann ich nicht ermessen, was Ihr fühlt, wenn Ihr diese Bilder seht.
Ich möchte mich für all die Kommentare von Freund*innen entschuldigen, die sagen, es sei die Schuld von Donald Trump. Sie machen es sich zu einfach, denn auch unter anderen Präsidenten sind immer wieder POC auf grausame Weise zu Tode gekommen.
Ich möchte mich für alle entschuldigen, die das Problem lediglich als US-amerikanisches sehen – nein, es ist ein strukturelles Problem, das wir auch in Deutschland haben. Auch hier leiden Menschen unter racial profiling und auch in der BRD müssen POC immer wieder unter Polizeigewalt leiden – man denke nur an Oury Jalloh, dessen Tod in einer Dessauer Polizeizelle noch immer ungeklärt ist.
Wir sind aufgewachsen mit dieser strukturellen Benachteiligung von allen, die aufgrund ihres Äußeren anders gelesen werden. Auch wenn wir es gerne leugnen würden und anderen die Schuld geben würden, sind wir Teil der Gesellschaft, in der wir aufgewachsen sind und leben. Für uns war Pippi Langstrumpfs Vater „Negerkönig“ und wir haben nicht darüber nachgedacht, wie es Euch bei der Lektüre dieses Romans wohl gehen mag. Thematisiert wurde das in der Schule nicht. Als Sternsinger haben wir uns die Gesichter angemalt, und welche Rolle der einzige Junge mit nicht-weißer Hautfarbe beim Krippenspiel in der Schule übernehmen musste, war auch klar. Immer wieder war Rassismus Teil unserer Erziehung und unserer Lebenswirklichkeit. Es ist Zeit, dass wir diesen Gegebenheiten ins Auge sehen, denn sonst können wir nichts daran ändern.
Ich möchte mich entschuldigen für die Fehler, die ich im Umgang mit Euch gemacht habe. Dafür, dass ich rassistisch war, ohne es sein zu wollen. Dafür, dass ich Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe vielleicht anders angesehen habe als Weiße. Dafür, dass ich ungefragt den Beginn von Chimamanda Ngozi Adichies Roman „Americanah“ zitiert habe, um mit Euch über Eure Haare zu sprechen. Dafür schäme ich mich.
Ich schäme mich auch für die Kommentare einer Freundin zu sexuellen Talenten von POC – und dafür, dass ich dazu geschwiegen habe und sie nicht darauf hingewiesen habe, dass das auch Rassismus ist.
Doch ich möchte und werde dazulernen und mich in meinem Denken weiter entwickeln. Ich möchte es mir nicht leicht machen, nicht schweigen und nicht wegsehen. Ich möchte nachlesen und mehr erfahren über Kolonialismus und Rassismus. Ich möchte bewusster werden und die richtigen Fragen stellen.
Ich möchte meine Kinder so erziehen, dass unsere Welt eine andere werden kann. Dass struktureller Rassismus kein Thema mehr sein wird. Dass sie Rassismus nicht hinnehmen, übergehen und schweigen, sondern ihren Mund aufmachen. Das möchte ich ihnen vorleben, Tag für Tag.
Ich fühle mit Euch, aber ich werde Euren Schmerz nie kennen. Deshalb bitte ich Euch, erzählt uns davon. Weist uns darauf hin, wenn wir uns unpassend oder gar rassistisch äußern, ohne es zu wollen. Lasst das Gespräch nicht abreißen, auch wenn es manchmal mühsam sein mag.
Wir möchten und können Eure Sache nicht zu unserer machen, aber wir möchten Euch gerne in Eurer Sache unterstützen und uns beteiligen und beitragen, was wir beitragen können. Wir werden weiterhin Seite an Seite mit Euch demonstrieren und laut rufen: „Black lives matter“. Wieder und wieder.
Ich wünsche mir, dass meine und Eure Kinder aufwachsen, ohne jemals Bilder wie die von George Floyds Ermordung sehen zu müssen.
Beim Schreiben dieser Zeilen habe ich schon – ohne es zu wollen – den nächsten Denkfehler gemacht: Ich bin davon ausgegangen, unsere Kinder, die Derartiges hoffentlich niemals zu Gesicht bekommen, könnten solche Bilder jemals annähernd mit den gleichen Augen sehen. Aber dem ist ja nicht so. Während Euer Kind auf der Straße liegen könnte, könnte meines das Arschloch sein, das auf seinem Genick kniet.
Alles, was in meiner Macht steht, werde ich dagegen tun. Alles. Es reicht nicht, zu posten, Reden zu halten und samstags zu demonstrieren. Hier stehe ich vor einer der großen Aufgaben des Alltags: Antirassistisch zu leben und zu denken – hier und jetzt, Tag für Tag, in meiner direkten Umgebung, in jedem Gespräch, bei jeder Begegnung.