Hervorgehoben

Zur Ermordung George Floyds

Lieber ehemaliger Mitschüler! Liebe Erzieherin meiner Kinder! Liebe Freund*innen! Liebe Kolleg*innen! Liebe Nachbar*innen! Liebe Passant*innen! Liebe POC!

Ich möchte mich hiermit bei Euch entschuldigen – für den Mord an George Floyd durch einen Polizisten, der meine Hautfarbe hat. Wie so viele POC in den vergangenen Jahren musste er aufgrund rassistischer Polizeigewalt sterben.

Ich möchte mich dafür entschuldigen, dass dieser und die vielen anderen Morde nun Eure Gedanken beherrschen und Euch schlaflose Nächte bereiten. Ich möchte mich dafür entschuldigen, dass Ihr Eure Sicherheit immer wieder bedroht seht.

Ich kann nicht ermessen, was es heißt, Rassismus zu erfahren. Ich bin weiß und habe zwar alle möglichen Arten von Benachteiligung erfahren – sei es wegen meines Geschlechts, meiner Kleidung oder wegen meines Daseins als Mutter. Doch niemals musste ich unter Rassismus leiden. Ich weiß nicht, was es heißt, aufgrund meiner Hautfarbe anders wahrgenommen zu werden. Deshalb kann ich auch nicht wirklich verstehen, was Ihr fühlt, wenn Ihr die Bilder von George Floyd seht. Für mich sind es grausame Bilder, die mich tief bewegen, wütend und traurig machen. Ich kann nicht glauben, dass auch heute – 57 Jahre nach der berühmten Rede von Martin Luther King – noch POC auf offener Straße hingerichtet werden. Und doch kann ich nicht ermessen, was Ihr fühlt, wenn Ihr diese Bilder seht.

Ich möchte mich für all die Kommentare von Freund*innen entschuldigen, die sagen, es sei die Schuld von Donald Trump. Sie machen es sich zu einfach, denn auch unter anderen Präsidenten sind immer wieder POC auf grausame Weise zu Tode gekommen.

Ich möchte mich für alle entschuldigen, die das Problem lediglich als US-amerikanisches sehen – nein, es ist ein strukturelles Problem, das wir auch in Deutschland haben. Auch hier leiden Menschen unter racial profiling und auch in der BRD müssen POC immer wieder unter Polizeigewalt leiden – man denke nur an Oury Jalloh, dessen Tod in einer Dessauer Polizeizelle noch immer ungeklärt ist.

Wir sind aufgewachsen mit dieser strukturellen Benachteiligung von allen, die aufgrund ihres Äußeren anders gelesen werden. Auch wenn wir es gerne leugnen würden und anderen die Schuld geben würden, sind wir Teil der Gesellschaft, in der wir aufgewachsen sind und leben. Für uns war Pippi Langstrumpfs Vater „Negerkönig“ und wir haben nicht darüber nachgedacht, wie es Euch bei der Lektüre dieses Romans wohl gehen mag. Thematisiert wurde das in der Schule nicht. Als Sternsinger haben wir uns die Gesichter angemalt, und welche Rolle der einzige Junge mit nicht-weißer Hautfarbe beim Krippenspiel in der Schule übernehmen musste, war auch klar. Immer wieder war Rassismus Teil unserer Erziehung und unserer Lebenswirklichkeit. Es ist Zeit, dass wir diesen Gegebenheiten ins Auge sehen, denn sonst können wir nichts daran ändern.

Ich möchte mich entschuldigen für die Fehler, die ich im Umgang mit Euch gemacht habe. Dafür, dass ich rassistisch war, ohne es sein zu wollen. Dafür, dass ich Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe vielleicht anders angesehen habe als Weiße. Dafür, dass ich ungefragt den Beginn von Chimamanda Ngozi Adichies Roman „Americanah“ zitiert habe, um mit Euch über Eure Haare zu sprechen. Dafür schäme ich mich.

Ich schäme mich auch für die Kommentare einer Freundin zu sexuellen Talenten von POC – und dafür, dass ich dazu geschwiegen habe und sie nicht darauf hingewiesen habe, dass das auch Rassismus ist.

Doch ich möchte und werde dazulernen und mich in meinem Denken weiter entwickeln. Ich möchte es mir nicht leicht machen, nicht schweigen und nicht wegsehen. Ich möchte nachlesen und mehr erfahren über Kolonialismus und Rassismus. Ich möchte bewusster werden und die richtigen Fragen stellen.

Ich möchte meine Kinder so erziehen, dass unsere Welt eine andere werden kann. Dass struktureller Rassismus kein Thema mehr sein wird. Dass sie Rassismus nicht hinnehmen, übergehen und schweigen, sondern ihren Mund aufmachen. Das möchte ich ihnen vorleben, Tag für Tag.

Ich fühle mit Euch, aber ich werde Euren Schmerz nie kennen. Deshalb bitte ich Euch, erzählt uns davon. Weist uns darauf hin, wenn wir uns unpassend oder gar rassistisch äußern, ohne es zu wollen. Lasst das Gespräch nicht abreißen, auch wenn es manchmal mühsam sein mag.

Wir möchten und können Eure Sache nicht zu unserer machen, aber wir möchten Euch gerne in Eurer Sache unterstützen und uns beteiligen und beitragen, was wir beitragen können. Wir werden weiterhin Seite an Seite mit Euch demonstrieren und laut rufen: „Black lives matter“. Wieder und wieder.

Ich wünsche mir, dass meine und Eure Kinder aufwachsen, ohne jemals Bilder wie die von George Floyds Ermordung sehen zu müssen.

Beim Schreiben dieser Zeilen habe ich schon – ohne es zu wollen – den nächsten Denkfehler gemacht: Ich bin davon ausgegangen, unsere Kinder, die Derartiges hoffentlich niemals zu Gesicht bekommen, könnten solche Bilder jemals annähernd mit den gleichen Augen sehen. Aber dem ist ja nicht so. Während Euer Kind auf der Straße liegen könnte, könnte meines das Arschloch sein, das auf seinem Genick kniet.

Alles, was in meiner Macht steht, werde ich dagegen tun. Alles. Es reicht nicht, zu posten, Reden zu halten und samstags zu demonstrieren. Hier stehe ich vor einer der großen Aufgaben des Alltags: Antirassistisch zu leben und zu denken – hier und jetzt, Tag für Tag, in meiner direkten Umgebung, in jedem Gespräch, bei jeder Begegnung.

Hervorgehoben

Eine Krise ist kein Lifestyle-Experiment

Ich bin es leid. Es geht mir auf die Nerven, dass mir jeder erzählt, was ich aus dieser Krise lernen soll, und wie viel besser die Welt hinterher sein wird. Ununterbrochen sprechen Freund*innen und Bekannte, aber auch Coaches und Blogger*innen darüber, wie wir uns nun auf das Eigentliche besinnen können, Zeit für das haben, was wir schon immer machen wollten und wie nebenbei die Erde heilt. Wenn man ihnen Glauben schenkt, wird nie wieder jemand eine Kreuzfahrt machen, alle werden solidarisch mit Alten und ihren Nachbarn sein, mit denen sie früher über Kreuz lagen, und nach fünf Wochen Homeschooling versteht jeder seine Kinder. Alle werden als bessere Menschen gestählt aus der Krise gehen – es fällt mir nicht ganz leicht, das zu glauben.

Es stört mich, dass diese „Corona-Krise als Retreat-Haltung“ nur die ohnehin schon privilegierten Menschen einschließt.

Die, die nicht Angst um ihre Existenz haben müssen und jetzt bequem von zu Hause aus arbeiten können oder sichere Jobs haben. Die, die nicht in einer winzigen Wohnung mehrere Kinder betreuen und beschulen müssen. Die, die genügend Rücklagen haben, um Krisen zu überstehen und nicht ohnehin schon von Hartz IV leben. Die, die sowieso immer unterwegs sind und es daher gut verkraften, wenn ihr Radius jetzt einmal eingeschränkt ist. Entschleunigen können nur die, deren Leben vorher abwechslungsreich, bunt und bewegt war.

Nicht die Suchtkranken, die jetzt aus Langeweile und aus Mangel an Alternativen und Therapieangeboten noch mehr konsumieren. Nicht die Frauen und Kinder, deren Heim nur ein Ort des Schreckens ist, an dem sie nicht sicher sind. Nicht die Obdachlosen, die schutzlos sind und auf der Straße kein Social Distancing leben können. Was tun, wenn dir alle sagen „bleib zu Hause“ und du hast gar kein Zuhause? Oder keines, das diesen Namen verdient?

Zahlreiche weitere Gruppen ließen sich aufzählen, die der Situation absolut nichts Positives abgewinnen können. Ganz zu schweigen von Menschen in Ländern wie Indien, in denen das Virus auch grassiert, oder Menschen, die in Flüchtlingslagern festsitzen.

Natürlich spricht einiges dafür, immer das halb volle Glas zu sehen, aber manche Dinge sind einfach nicht schön und auch nicht schönzureden. Manche Menschen hängen an Beatmungsgeräten und werden sterben. Viele werden liebe Menschen verlieren. Wohin sich unser aller Leben entwickeln wird, bleibt ungewiss. Unsere Grundrechte sind eingeschränkt.

Angesichts all dessen darf man die Dinge ruhig so bezeichnen, wie sie sich darstellen. Auch als Menschen der Postmoderne dürfen wir zugeben, dass wir Angst haben und nicht wissen, wie es weiter gehen wird. Vielleicht geht es gar nicht immer steil nach oben und vorwärts. Vielleicht stagnieren wir sogar oder machen Rückschritte und wir müssen auch nicht immer an uns wachsen. Und angesichts einer Pandemie, die gerade die ganze Welt in ihren Grundfesten erschüttert, dürfen wir das ruhig auch laut aussprechen.

Nicht für jeden bedeutet die Corona-Krise Entschleunigung

Liebe R.! Oder: Brief an eine „Querdenkerin“!

Niemals hätte ich gedacht, dass es so weit kommen könnte. Dass ich jetzt hier sitze und Dir schreibe, dass ich Abstand brauche, weil ich nicht mehr weiß, wie ich mit Dir umgehen soll, weil Du Meinungen vertrittst, die mich seit einem Jahr wütend machen und die ich nicht mehr hören will.

Als die Pandemie uns vor über einem Jahr erreichte, war ich mir sicher, dass die meisten Menschen die Einschränkungen bereitwillig mittragen würden. Um Leben zu retten, Plätze in Intensivbetten zu sichern, einfach um solidarisch zu sein. Bei Dir hätte ich auch keine Sekunde daran gezweifelt, auch wenn Du schon damals schon für „das schwedische Modell“ geschwärmt hast und die Einschränkungen Dich genervt haben. Aber für wen waren sie nicht anstrengend?

Natürlich ist es auch mir nicht leichtgefallen, auf alles Mögliche zu verzichten: Homeoffice ohne Kinderbetreuung, Fernlernen mit einem Grundschüler, Sorge um Eltern und Großeltern und dazu der Alltagstrott in Potenz. Aber um Leben zu retten, schien und scheint mir der Preis nicht zu hoch.

Ich wusste nicht, wann das Alles enden würde und welche Auswirkungen es auf die Menschheit und auf mein kleines bescheidenes Leben haben würde. Aber ich hätte niemals gedacht, dass ich Dich, eine meiner besten Freundinnen wegen Corona und allem, was damit zusammenhängt, verlieren könnte. Nicht weil wir uns durch die Ausgangsbeschränkungen zu selten sehen, sondern weil Du mittlerweile von einem Fan des „schwedischen Modells“ zu einer sogenannten „Querdenkerin“ geworden bist – auch wenn Du Dich selbst niemals so bezeichnen würdest.

Ich dachte immer, es sind irgendwelche Anderen, die mit Demonstrierenden auf dem Stuttgarter Wasen und an anderen Orten, sympathisieren. Doch nicht Du! Die Freundin, dich ich so gerne mag, mit der ich Schwangerschaft und erste Babyzeit durchgestanden habe, mit der ich auf Hochzeiten gemeinsamer Freund*innen getanzt habe, mit der ich Sorgen teilte, die ich früher ständig sah. Wir schienen uns so ähnlich.

Ehrlich gesagt liegt es auch gar nicht an den Ausgangsbeschränkungen oder an unseren anstrengenden Jobs, dass wir uns nur noch so selten sehen, sondern daran, wie anstrengend unsere Treffen geworden sind. Unsere Meinungen sind zu verschieden, Du willst meine Argumente nicht hören, weil sie ja Deiner Meinung nach ohnehin nur den Mainstream und die angeblich staatlich gelenkte Presse widerspiegeln. Und ich möchte mich nicht als gedankenloses Schaf hinstellen lassen, nur weil ich Mund-Nasen-Bedeckung trage und Jan-Josef Liefers für einen Schauspieler und nicht für einen Freiheitskämpfer halte.

Während ich mich von Dir nicht gehört fühle, werde ich von Dir über die Sozialen Medien bombardiert mit Unterschriftenaktionen, abstrusen Meinungen von Professor*innen und Kinderärzt*innen und Studien unklarer Herkunft. Anfangs habe ich noch versucht, mich damit zu befassen und dem etwas entgegen zu setzen, aber da ist kein Hauch eines Interesses für eine andere Meinung. Oder für schlichte Fakten.

Es ist nicht so, dass ich nicht mit anderen Meinungen zurechtkomme, oder dass alle meine Freund*innen gleich denken müssen. Im Gegenteil – Diskussionen sind spannend, neue Gedanken bereichern Freundschaften unendlich. Auch früher waren wir nicht immer einer Meinung. Wir haben immer gerne diskutiert. Aber hier scheint es nicht um einen Meinungsaustausch zu gehen, sondern nur um ein Überzeugen, um ein Rechthaben, um ein Bekehren. Deine Meinung ist die einzig richtige, alles, was anders ist, wird als falsch betrachtet und darf nicht sein. Nicht einmal, wenn Fakten dies belegen. Du bist Dir Deiner Sache so sicher und Du wirkst – bitte entschuldige – in Deinem Einsatz für Deine Wahrheit so eitel, dass ich nicht mehr weiß, wie ich zu Dir durchdringen soll.

Wir haben immerhin beide gemerkt, dass es nicht mehr geht und nach all unseren Streitgesprächen reden wir jetzt einfach nicht mehr über Corona und alles, was damit zusammenhängt. Mittlerweile sprechen wir über die Männer, die uns in den 90ern gefallen haben oder wir kramen in unserem Gedächtnis verzweifelt nach Netflix-Serien, die wir einander empfehlen könnten. Aber dieses eine Thema bestimmt nun einmal unseren Alltag und unsere Gedanken. Corona und unser Leben in der Pandemie ist so präsent, dass ein Gespräch, das diese Dinge ausspart, schnell künstlich anmutet. Auch über die Kinder können wir nicht mehr sprechen, denn ich halte eine Mund-Nasen-Bedeckung in der Schule für sinnvoll und sehe in der Testpflicht keine Gefahr für die kindliche Seele. Du hast eine Unterschriftenaktionen gegen die Maskenpflicht in Schulen gestartet und beschulst Deine Kinder zu Hause, weil Du nichts vom Testen hältst. Wir sind uns nicht mehr wirklich nah. Du tust meine Sorgen ab und ich kann Deine nicht verstehen.

Ich weiß nicht, was ohne Corona aus uns und unserer Freundschaft geworden wäre. Hätten wir uns auch so weit auseinander entwickelt? Hätten wir uns mehr zu sagen? Oder würden uns andere Themen trennen? Wären wir uns einig? Würden wir weiterhin jedes Wochenende gemeinsam verbringen und unsere Kinder zusammen aufwachsen sehen?

Vieles, was mein früheres Leben ausgemacht hat, gibt es nicht mehr: Theater, Kino, Restaurants und Städtereisen fehlen mir, aber ich kann darauf verzichten. Soziale Bindungen und Freundschaften bleiben mir ja, dachte ich zumindest bislang. Niemals hätte ich es für möglich gehalten, dass die Pandemie nicht nur Lungen, sondern auch Freundschaften ruinieren könnte. Ein Graben tut sich zwischen uns auf und ich weiß nicht, wie wir ihn überwinden können.

Ich weiß also nicht, wie es weitergehen soll. Ob wir uns noch treffen sollen. Vielleicht irgendwann, wenn Corona vorbei ist? Aber selbst dann werden die unterschiedlichen Erinnerungen, die wir an diese Zeit haben werden, zwischen uns stehen. Wir werden sehen, was noch kommt und vielleicht Möglichkeiten finden, uns wieder „zusammen zu raufen“. Aber im Moment brauche ich meine Energie an anderen Stellen. Gerade jetzt brauche ich Freund*innen, die meine Sorgen ernst nehmen, mit denen ich über meinen Kummer sprechen kann und die meine Überzeugungen akzeptieren und nicht entwerten. Ich kann und will diesen so sinnlosen Kampf jetzt nicht mehr kämpfen. Ich brauche Abstand von Deiner Meinung. Dann kann ich Dich vielleicht auch irgendwann wiederfinden.

Deine A.

Jeden Tag gehen sie auf die Straße, die tapfereren Bürger*innen von Myanmar. Sie kämpfen gegen die Machtergreifung durch das Militär und für Demokratie und man möchte all den Eindringlingen ins Kapitol und den Querdenker*innen entgegenschleudern, dass diese Menschen einen echten Grund haben, auf die Straße zu gehen.

Ich denke jeden Tag an dieses magische Land und an all die wunderbaren Menschen, die ich dort treffen durfte, die so neugierig auf die westliche Welt waren, alles über Europa wissen wollten und Englisch-Klassen stürmten, um sich mit den vor neun Jahren noch relativ seltenen Tourist*innen unterhalten zu können. Nicht aus Profitgier, sondern aus echtem Interesse.

In kaum einem anderen Land wurde ich so gastfreundlich empfangen und von fremden Menschen geradezu umsorgt. Ein Mönch begleitete mich durch Yangon und zeigte mir die heiligen Plätze der Stadt, ich landete spontan in Englisch-Klassen, um von Europa zu erzählen und im Restaurant hatten mehr als einmal nette Leute am Nebentisch mein Essen schon für mich bezahlt.

Ich frage mich täglich, ob manche dieser Menschen jetzt wohl auf den Demonstrationen dabei sind und hoffe so sehr, dass alles gut ausgeht.

Ein Jahr Corona-Pandemie in Deutschland – meine frühzeitige Vergreisung zur Corona-Rentnerin

Ich bin gealtert, damit meine ich nicht nur die Fältchen um die Augen, die mit jeder Stunde Bildschirmarbeit tiefer werden, sondern meine „neue Normalität“, die mich scheinbar zur Rentnerin gemacht hat. Jedenfalls weist mein Dasein erstaunliche Parallelen zu dem Leben, das viele Rentner*innen – zumindest in meiner Vorstellung – führen, auf.

Morgens kann ich ausschlafen und das tue ich auch. Ist ja egal, wann ich in welchem Outfit kaffeetrinkend vor dem Rechner sitze. Wenn es klingelt, stehe ich auf und nehme die Pakete für die gesamte Nachbarschaft an, jedenfalls für die, die nicht im Home-Office arbeiten. Ich freue mich richtig auf die kurze Begegnung mit dem netten Mann von DHL. Den ebenfalls sehr freundlichen Boten von Hermes kenne ich jetzt auch.

Der Vormittag zieht sich. Ich bin ganz schön einsam geworden, telefoniere viel, schreibe Postkarten, Mails und sogar Briefe und finde doch keinen Ersatz für echte zwischenmenschliche Beziehungen.

Immer wieder ertappe ich mich dabei, wie ich mich auf den Besuch im Supermarkt freue, der mir zum echten Highlight geworden ist. Auch wenn das Einkaufsradio mich mahnt, nicht länger als notwendig im Laden zu bleiben, lasse ich mir Zeit und suche mir das, was ich kaufen will, ganz langsam aus. Es eilt ja nicht!

Auf dem Heimweg lauere ich nach Ansprache – vielleicht steht die Nachbarin ja auf der Terrasse oder der junge Mann von Gegenüber erledigt Gartenarbeit? Mal sehen… Ich mache Umwege, um vielleicht doch noch ein Schwätzchen am Gartenzaun einlegen zu können. Und rede dann über das Wetter – und Krankheiten. Oder jedenfalls diese eine, inklusive Vorerkrankungen, die Prognosen verschlechtern, und mögliche Langzeitfolgen. Mein Leben scheint so viel ärmer an Themen geworden zu sein!

Geregelte Mahlzeiten, Spaziergänge und Kaffeepausen verleihen dem restlichen Tag dann Struktur. Abends darf ich so lange aufbleiben, wie ich will und sehe mir fragwürdige Serien wie „Charité“ an. Jeden Abend wird es ein bisschen später, dann beginnt alles von vorne. Nur noch ein bisschen langsamer…

Manches an diesem Leben ist angenehm. Weniger angenehm ist ist der Verlust von Träumen und Visionen – ich mache keine Pläne mehr, denn es ist zu ungewiss, ob sie sich verwirklichen lassen, oder ob nicht alles wieder abgesagt werden muss. Bislang war meine weit über 90-jährige Oma die einzige mir bekannte Person, die sich konsequent dem Schmieden von Plänen verweigert und gerne Sätze mit „Wenn ich dann überhaupt noch lebe…“, beginnt. Jetzt ertappe ich mich ständig selbst bei derartigen Satzkonstruktionen: „Wenn ich das noch erlebe, dass die Clubs wieder öffnen!“ Dafür schwelge ich ungehemmt in Erinnerungen. Während des ersten Lockdowns musste ich manchmal ganz plötzlich weinen, weil mir auf einmal in den Sinn kam, wie es sich anfühlt, auf einem Konzert in einer Menschenmenge zu stehen. Jetzt sind Konzerte, Festivals und Clubnächte schon unerreichbar weit weg für mich und ich schwärme ausschweifend und mit stiller Wehmut von Zeiten, zu denen es noch selbstverständlich war, mit Fremden aus einem Becher zu trinken. Mir scheint das so unendlich fern und ich komme mir vor wie ein jämmerlicher Campino, der das „alte Fieber“ beschwört und Erinnerungen auspackt wie verstaubte Haufen Altpapier. Oder wie mein eigener Vater, wenn er davon erzählt, wie die Stones groß wurden, als er bei der Bundeswehr war…

Ein gleichaltriger Freund berichtete mir vor einigen Tagen, dass er jetzt genau das Leben führe, das er gerne als Pensionär führen würde: Jeden Abend auf dem Sofa sitzen und fernsehen, neben sich seine Traumfrau, die strickt. Er sagt, dass er das schön finde, aber es hätte eben noch ein paar Jahrzehnte Zeit gehabt. Ich bin also nicht alleine mit meiner vorzeitigen Vergreisung…

Als sich in Deutschland vor einem Jahr die ersten Menschen mit Corona infizierten, wusste keiner, wo das hinführen würde. Alles schien möglich – von der Apokalypse bis zur Heilung der Erde und der Menschheit. Wo vor einem Jahr Aufbruchsstimmung herrschte, wo Menschen ihr Leben und den Kapitalismus radikal in Frage gestellt oder wenigstens ihren Kleiderschrank radikal ausgemistet haben, trödeln nun alle nur noch vor sich hin. Ich gehörte damals eher zu den etwas skeptischeren Menschen, aber dass sich keine der von sogenannten Zukunftsforschern mutig aufgestellten Thesen bewahrheiten würde, sondern dass wir alle einfach nur vorzeitig vergreisen und in Corona-Rente gehen, hätte ich nicht für möglich gehalten.

O du scheinheilige Weihnachtszeit – ein kleiner Rückblick auf den Advent in der Pandemie

Nun ist er da, der „heilige Abend“, aber die letzten Wochen waren alles Andere als „heilig“, sondern eher ein Lehrstück in Sachen Scheinheiligkeit.

„Unaufrichtigkeit“ und „Unehrlichkeit“ sowie „Vortäuschung“ bietet der Duden als Synonyme zu dem Begriff „Scheinheiligkeit“ und für mich waren die letzten Wochen genau von diesen unschönen Verhaltensweisen geprägt. Im Großen und im Kleinen.

Im Großen, wenn die ganze Republik das Weihnachtsfest, das in einer säkularisierten Gesellschaft sonst eher eine untergeordnete Rolle spielt, plötzlich völlig überhöht und so tut, als gäbe es nichts Größeres als gemeinsam unter dem Weihnachtsbaum zu sitzen. Dass die Zahl der Corona-Infektionen steigt, wird ausblendet – schließlich geht es um Wichtigeres: Auf einmal wollen alle zusammen Christi Geburt feiern! Das Weihnachtsfest muss gerettet werden und zwar um jeden Preis! Dass die Zahl der Kirchenaustritte seit Jahren steigt und selbst die Sorgen und Nöte der Corona-Krise die Menschen nicht zurück in die Kirchen bringen, spielt hierbei keine Rolle. Dass es Menschen gibt, denen das Fest nichts bedeutet oder die es nicht feiern, weil sie anderen Religionsgemeinschaften angehören, bleibt unbeachtet.

Schließlich geben die meisten ja auch vor, es gehe gar nicht nur um das kirchliche Fest, sondern auch darum, dass die armen alten Menschen an den Feiertagen nicht alleine gelassen würden. Natürlich ist es nicht schön, an Weihnachten alleine zu sein, aber seit wann interessiert es uns, dass Menschen einsam sind? Zweifellos leben viele alte (und nicht nur diese!) Menschen permanent in Einsamkeit, haben selten Besuch oder Ansprache.

Warum haben wir uns bislang kaum mit der Situation in Alten- und Pflegeheimen beschäftigt? Warum haben wir dort nicht längst Besuchsdienste eingerichtet, als das noch problemlos möglich gewesen wäre? Warum haben wir bisher immer weg geschaut, wenn die Nachbarin tagein, tagaus alleine in ihrer Wohnung sitzt? Weshalb haben wir uns nie für die Menschen interessiert, die tatsächlich einsam und völlig auf sich alleine gestellt ohne Obdach auf unseren Straßen leben?

Auch die Politik hat den „Weihnachts-Wahn“ kräftig befeuert: Anstatt klare Verhältnisse zu schaffen, setzt sie zunächst auf halbherzige Schließungen. „Wenn wir im November alle sehr vernünftig sind, dann werden wir uns mehr Freiheiten zu Weihnachten erlauben können“, begründet Angela Merkel den Teil-Lockdown im November, um uns darauf einzustimmen, auf Kneipen, Sport und Kultur zu verzichten, damit wir an Weihnachten auch angemessen feiern können. Da Läden und Shopping-Malls geöffnet bleiben, besteht der leise Verdacht, dass es – trotz des drohenden exponentiellen Wachstums der Infektionsraten – vorrangig darum geht, das Weihnachtsgeschäft zu retten. Ausgenommen von all dieser Scheinheiligkeit, die hier angeprangert wird, bleibt nur einer, denn der CSU-Politiker Markus Söder verkündet etwa zeitgleich: „Unsere Kinder müssen betreut werden. Denn wenn wir den wirtschaftlichen Lockdown auch verhindern wollen – das ist ja der Zusammenhang, Schule und Kita hat ja den Sinn und Zweck, auch um die Wirtschaft am Laufen zu lassen. Wenn die Eltern keine Betreuung haben, gibt’s auch keine Wirtschaft.“ Diesem Gestammel lässt sich unerwartet ehrlich entnehmen, dass also eventuell doch die Wirtschaft und das Weihnachtsgeschäft im Vordergrund stehen. Aus seiner Sicht auf die Rolle von Schulen und Kindergärten macht Söder hier ebenfalls keinen Hehl – da weiß man wenigstens, woran man ist, und was man davon zu halten hat.

Doch auch im Kleinen herrscht derzeit die Scheinheiligkeit vor: Freund*innen treiben mich stundenlang durch Sturm und Regen, weil mehr als ein gemeinsamer Spaziergang angesichts der hohen Fallzahlen leider wirklich nicht drin sei, um dann zu erzählen, dass sie derzeit jedes Wochenende in der Großfamilie verbringen oder jeden Tag sämtliche Kinder der Nachbarschaft zu Gast haben.

Verwandte schimpfen auf die Politiker*innen, deren Regeln viel zu lasch seien, nur um dann jede Lücke der Lockdown-Verordnungen zu finden und für sich zu nutzen – anstatt einfach gesunden Menschenverstand walten zu lassen.

Im Laden pöbeln Einkaufende, weil der Mindestabstand nicht eingehalten würde, aber dass sie selbst gar nicht im Laden sein dürften, weil sie geflissentlich übersehen haben, dass am Eingang ein Plastikkorb zu nehmen ist, um die Anzahl der Menschen im Geschäft zu reduzieren, wollen sie einfach nicht verstehen.

Es wird nichts gut werden, wenn wir weiterhin die Fehler nur bei anderen suchen, mit uns großzügig sind und mit anderen streng. Es ist tödlich für unser Zusammenleben, wenn wir permanent Verhaltensweisen der anderen überwachen und kritisieren und die Auseinandersetzung mit dem eigenen Tun vernachlässigen. Vielleicht sollten wir den heiligen Abend als Anlass nehmen, die Scheinheiligkeit hinter uns zu lassen und endlich wieder ehrlicher zu uns selbst und zu unseren Mitmenschen zu sein? Die Situation ist belastend genug – auf Dauer machen Vortäuschung und Unehrlichkeit alles nur noch schwerer und verhindern eine echte Auseinandersetzung mit der ernsten Situation.

In diesem Sinne: Ein ehrliches Weihnachtsfest und einen aufrichtigen und selbstkritischen Start in ein hoffnungsvolleres Jahr 2021!

Warum der November-Blues dieses Jahr so wehtut – auf Wiedersehen, Kultur!

Ein letztes Mal: Kino, Theater, Kneipe. Anders als im März ohne Angst, ohne Endzeitstimmung – wir wissen ja, was kommt, und wie es sich anfühlt, auf Geselligkeit und Kultur, abseits von Netflix, zu verzichten. Wir wissen auch, wie es ist, wenn dann alles wieder da ist. Allerdings steigt hier natürlich mit dem zweiten Lockdown die Wahrscheinlichkeit, dass einige Musiker*innen, Wirt*innen und Kulturschaffende nicht mehr da sein werden. Was wird von unserer Kulturlandschaft und unserem Nachtleben übrig bleiben? Viele haben betont, dass sie einen Lockdown irgendwie überleben können, einen zweiten jedoch nicht. Wir sollten aufhören, es als Selbstverständlichkeit anzusehen, dass Kultur und Gastro-Szene stets verfügbar und immer für uns da sind. Ganz zu schweigen von der Clublandschaft, die nicht einmal die Möglichkeit hatte, im Sommer ein bisschen etwas einzunehmen.

Theater in Corona-Zeiten: Schon vor Betreten des Hauses führt ein junger Herr an die Hygiene-Regeln heran. Der Mindestabstand wird jederzeit eingehalten, ich komme mir allein auf meinem Stühlchen fast verloren vor. Kein hustender Nachbar, niemand drängt sich an mir vorbei oder quatscht noch mit der Nachbarin. Zu jedem Zeitpunkt fühle ich mich sicher – weitaus sicherer als in den Öffentlichen, die ich täglich nutze. Kläglich klingt der Schluss-Applaus in einem nur zu einem Drittel besetzten Haus. Ich hoffe, dass die Zuschauer*innen nie aufhören, zu klatschen. Schließlich war das Stück grandios und ich möchte, dass die Schauspieler*innen das auch hören, obwohl fast keiner zusehen durfte.

Die Stadt ist voll, alle treibt es hinaus auf die Straßen. Keine Spur von der Endzeitstimmung Ende März, als die Straßen wie leergefegt da lagen, und sich nur einzelne Menschen zum Einkaufen hinaus wagten. Jetzt wollen alle noch einmal das Leben spüren an diesen frühlingshaften Herbsttagen. Vernünftig sein können wir ab Montag…

Lange Schlangen vor dem Lieblingscafé. Ich nehme noch einmal alles mit und stelle mich geduldig an, um dann mit Kaffee und Torte draußen zu sitzen.

Zweimal schaffe ich es am Wochenende noch ins Kino und ich könnte heulen, wenn ich das Kino-Gefühl mit einem Netflix-Abend vergleiche. „Die Stimme des Regenwaldes“ und „Und morgen die ganze Welt“ sehe ich mir an, zwei sehr gute Filme, aber ich hätte mir alles angesehen, nur um nochmal dabei zu sein, wie es allmählich dunkel wird, das Geplapper der Zuschauer*innen verebbt und sich der Vorhang hebt.

Wehmut packt mich, und wenn ich mich so umsehe, die ganze Stadt – endlich scheinen alle begriffen zu haben, in welch wunderbarem Land wir leben und wie bunt unsere Kulturlandschaft bislang gewesen ist.

Mögen alle Gutscheine kaufen und Essen bestellen! Vergesst die nicht, die immer für euch da sind – wenn euch langweilig ist, ihr Leute und Musik um euch haben wollt, noch einen Drink oder einen starken Kaffee oder etwas für die Seele braucht! Mögen nach dem Lockdown alle den Kinos, Konzerthäusern, Off-Bühnen, Theatern, Cafés, Restaurants und Kneipen die Türen einrennen! Jedenfalls denen, die im Dezember wieder öffnen werden…

Verzichte auf deine Jugend – Toleranz für Trollinger-Trinker und Berghain-Gänger

„Es ist 2020 nicht einfach, 20 zu sein“ – das räumt der französische Präsident Emmanuel Macron Mitte Oktober anlässlich der erneuten nächtlichen Ausgangssperren in Frankreich ein. Einige Tage später verkündet Juso-Chef Kevin Kühnert, dass man während der Corona-Zeit jungen Menschen gegenüber empathisch sein solle und ihnen Toleranz entgegen bringen müsse. Immerhin – es ist jedoch erstaunlich, dass den beiden Herren erst jetzt auffällt, worauf junge Menschen bereits seit März überall in Europa verzichten: Parties, Sozialleben, Reisen, Festivals, lange Nächte in Kneipen und Clubs.

Natürlich war und ist es absolut richtig, dem Schutz des Lebens – auch dem älterer Menschen, die ihrem Lebensabend schon entgegen sehen – oberste Priorität einzuräumen. Aber anstatt den lange geübten Verzicht junger Leute anzuerkennen, sind diese immer wieder in Kritik geraten: für wilde Raves in der Hauptstadt, für Zusammenkünfte auf Plätzen und in Parks, in denen die AHA-Regeln missachtet werden und Alkohol konsumiert wird, für jeden Ausbruch aus dem Korsett an Regeln, das uns die Pandemie beschert hat. In den Medien und vielen Köpfen sind Jugendliche nur vergnügungssüchtige Hedonisten, die das Leben ihrer Mitmenschen jederzeit für ein krasses Besäufnis opfern würden.

Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann betont: „Parties muss man nicht feiern, arbeiten und lernen schon.“ Mit dieser pietistischen Haltung trifft er den Nerv einer überalterten Gesellschaft, deren Mehrheit schon mit Lebenspartner*in und (erwachsenen) Kindern im Eigenheim sitzt und der Meinung ist, dass man ein Gläschen Wein auch einfach mal zu Hause trinken könne. Schulen und Kindergärten können ruhig geöffnet bleiben, dann funktioniert auch die Erwerbsarbeit besser, und ob irgendwelche Clubs ihre Tore jemals wieder öffnen, ist doch völlig egal, denn hier geht es nur um hirnlose und unnötige Vergnügungssucht meist junger Menschen. So wundert es nicht, dass zwar Bordelle und Bundesliga zwischenzeitlich wieder betrieben wurden, während die von Club-Betreibern vorgelegten Hygiene-Konzepte bis heute ungehört blieben. Dass es auch andere Lebensphasen und -entwürfe gibt, bleibt unbeachtet oder schlimmer: Es wird hart kritisiert und die Corona-Maßnahmen scheinen den Kritikern das Recht zu geben, mit dem Finger auf andere zu zeigen. Manche Menschen leben vom und im Nachtleben und haben keinen Plan B. Ich höre den Pietisten-Chor um Kretschmann schon laut mahnen: „Dann wird es höchste Zeit, endlich doch noch das Studium abzuschließen und sich Gedanken über den wahren Sinn des Lebens zu machen!“ Hier beginnt das Problem: Die eigene Art zu leben wird über die Lebensweise anderer gestellt; Bedürfnisse, die von eigenen abweichen, werden schlichtweg nicht toleriert.

Wer jeden Abend im Reihenhaus neben seiner besseren Hälfte einschläft und immer jemanden zum Umarmen hat, versteht nicht, dass körperliche Nähe manchmal ein bisschen Rausch braucht. Wer es vor Corona nicht in feste Hände geschafft hat (und das vielleicht auch nie vorhatte), hat nun eben das Nachsehen. Menschen, deren Sexualleben die heteronormative Vorstellungskraft des Pietisten-Chores sprengt, und denen das Nachtleben glücklicherweise bislang die Möglichkeit geboten hat, Gleichgesinnte kennen zu lernen, haben ebenfalls Pech gehabt.

Erstaunlich, dass all die im Frühjahr abgesagten Kommunionen und Konfirmationen, die nun mit großem Brimborium nachgefeiert wurden und oftmals zu Infektionstreibern wurden, nicht genauso in Verruf geraten sind wie die Clubszene und die Parties junger Menschen. Aber sie passen nun einmal in das bürgerliche Lebensmodell, das die bundesdeutsche Mehrheit praktiziert.

Glücklicherweise leben wir in einem Land, das Raum für alle Meinungen und Lebensentwürfe bietet. Wir dürfen nicht zulassen, dass die Pandemie, die uns schon soviel genommen hat, nun auch gelebte Vielfalt und Toleranz nimmt. Offensichtlich kann man in diesen Zeiten nicht oft genug und immer wieder auf den Wert der Solidarität hinweisen – auch gegenüber jungen Menschen und anderen Lebensentwürfen. We are all in – egal, ob Exzess für uns ein Gläschen Trollinger auf der Terrasse oder drei Tage im Berghain bedeutet.

Von Charity, Schlafzimmer-Imperien und dem Charme der Flohmärkte

Alles vom Flohmarkt!

Als ich 14 war, war es eine unserer größten Vergnügen in der rheinischen Provinz in den Containern eines Altkleiderhändlers herum zu klettern, um die Nadel im Heuhaufen, das Juwel unter den Lumpen, die passende Levis unter alten Kinderjeans von C&A zu finden. Mit dem 24-Stunden-Ticket sind meine Freundinnen und ich aufgebrochen mit dem festen Plan eine Lederhose zu kaufen, um endlich auch untenrum als Metallica-Fan erkannt und ernst genommen zu werden. Gekauft haben wir dann ganz andere Sachen: Herrenunterhemden zum Batiken, Abendkleider aus den 70ern und kratzende Schurwollpullis. Etwas zu finden, was wir gar nicht gesucht hatten, war Teil des Vergnügens. Und Vergnügen hatten wir beim Anprobieren, Beraten, Tauschen und Wühlen jede Menge! Hätten wir einfach von der Stange gekauft, wäre die große Freude an dieser Schatzsuche weggefallen. Noch heute ist es die Jägerin in mir, die mich in Kaufhäusern und Boutiquen ratlos macht – ich weiß nicht, wo anfangen, wo hin fassen und es langweilt mich ganz schrecklich, alles nach Größen und Farben sortiert vorgesetzt zu bekommen. Auch Jahrzehnte später kaufe ich am liebsten und fast ausschließlich gebraucht.

Wo ich auch unterwegs bin, halte ich die Augen offen nach Secondhand- und Charity-Shops. Ich liebe die Geschichten, die an meinen Kleidungsstücken hängen. Wie gerne denke ich an zähe Verhandlungen auf Pariser Flohmärkten zurück und meine unendlichen Touren durch die Charity-Shops in Schottland und New York. Ich habe in dunklen Kellern, in denen es auf den ersten Blick wirklich absolut nichts Tragbares zu geben schien, Cashmere-Pullover von Sonia Rykiel und Seidenkleider von Max Mara gefunden – für mich echte Glücksmomente!

Schon so oft habe ich mit Flohmarktverkäufer*innen richtig nett geplaudert und immer wieder habe ich ganz besonderen Stücken, die ungetragen in Schränken versauerten, ein zweites Leben geschenkt.

Das klingt jetzt alles reichlich versponnen, fast schon nach einer Obsession, doch natürlich sind es auch rationale Argumente und nicht nur die pure Leidenschaft, die mich secondhand kaufen lassen – und das nicht erst seit 2013, als ich heulend vor der Tagesschau saß und die Berichterstattung über den Einsturz des Fabrikkomplexes Rana Plaza verfolgte, durch den über 1000 Textilarbeiter*innen in Bangladesh zu Tode gekommen sind. Die unmenschlichen Arbeitsbedingungen, unter denen unsere Kleidung produziert wird, sind ein zentrales Argument. Das andere ist die Nachhaltigkeit: Je nach Schätzung reichen die bisher produzierten Kleidungsstücke aus, um die gesamte Menschheit für eine Dauer von bis zu zehn Jahren komplett einzukleiden. Es ist also schlichtweg nicht notwendig, neue Kleidung zu produzieren und die Modeindustrie zählt nun einmal zu den größten Umweltverschmutzern. Trotzdem haben die Menschen verständlicherweise Lust auf Abwechslung und werden wohl die in ihren Schränken vorhandenen Kleidungsstücke nicht bis zur Unkenntlichkeit auftragen. Hier können gebrauchte Kleider hilfreich sein – die Fehlkäufe der einen werden zu Lieblingsstücken der anderen.

Online-Händler wie Vestiaire collective, Kleiderkreisel und Mädchenflohmarkt setzen seit Jahren auf die Lust an Gebrauchtem als Geschäftsmodell. So ganz meins ist das nicht, denn mir fehlen hier Haptik, Jagdgefühl und persönlicher Austausch. Ich ziehe lieber in der Sonne auf einem süßen Flohmarkt von Stand zu Stand und fasse die feinen Stöffchen gerne an. Oder ich rede mit den netten Ehrenamtlichen im Charity-Shop, die manchmal ganz erstaunt über meine Funde sind. Hier habe ich dann sogar noch das Gefühl, nicht nur etwas Schönes erworben, sondern auch Geld für eine gute Sache gespendet zu haben. Aber ich finde es trotzdem gut, dass der Secondhand-Gedanke online auch Leute erreicht, die lieber zu Hause vor dem Bildschirm shoppen oder keinen Zugang zu entsprechenden Läden haben. Damit sich tatsächlich etwas ändert, muss das Tragen gebrauchter Kleidung schließlich „Mainstream“ werden.

Doch in letzter Zeit nimmt der „Re-Commerce“ bizarre Formen an: Depop, ein Online-Marktplatz für gebrauchte Klamotten und Selbstgebasteltes, animiert seine Verkäufer*innen dazu, ein „Imperium“ zu errichten. Bella McFadden hat das schon geschafft: Sie gilt als die erste Dollar-Millionärin der Plattform und hat mittlerweile vier Angestellte.

Hier komme ich an einen Punkt, der mich wirklich nachdenklich macht: Auch wenn natürlich mehr Menschen Gebrauchtes tragen sollten, um Ressourcen zu schonen und nachhaltig zu leben, wohnt dem Secondhand-Gedanken meiner Meinung nach doch auch gesunde Kapitalismus-Kritik und Verzicht auf den Konsum, wie wir ihn bislang kannten, inne.

Reich wird auf Flohmärkten niemand – für alle nicht-professionnellen Flohmarktverkäufer*innen, mit denen ich gesprochen habe, steht der Umweltschutz und der Wunsch, kaum getragenen oder nicht mehr passenden Stücken ein zweites Leben zu schenken, im Vordergrund. Wie häufig habe ich den Satz „Ich freue mich, wenn es weiterlebt“ gehört. Natürlich freut man sich auch darüber, dass man für Dinge, die man ohnehin nicht mehr nutzt, noch ein bisschen Geld bekommt, aber finanzieller Gewinn ist sicherlich nicht zentral.

In Charity-Läden geht es hingegen wirklich um gelebte Solidarität: Spenden werden von Ehrenamtlichen verkauft und die Erlöse dienen wohltätigen Zwecken. Manche Läden werden sogar von Menschen betrieben, die auf dem ersten Arbeitsmarkt kaum Chancen geboten bekommen. Hier sehe ich nur Vorteile – für die Einkäufer*innen, die Verkäufer*innen und die vielen überflüssigen Stücke, die in unserer Wohlstandsgesellschaft wohl ohne diese Möglichkeiten oft im Müll oder der Altkleidersammlung landen würden.

Doch gerade werden all diese guten Gedanken und Absichten von den Online-Giganten durcheinandergewirbelt – Depops „Bedroom Empires“ sind dagegen Tante-Emma-Läden: Der schwedische Textil-Riese H&M hat es mit seiner Plattform Sellpy vorgemacht und vor einigen Wochen startete dann auch Zalando einen eigenen Pre-Owned-Handel im Internet. Alles hier ist nach Größen und Marken sortiert – fast wie beim Zalando-Versandhandel mit Neuwaren. Woher die Kleider stammen? Zalando-Kund*innen tauschen ihre getragenen Kleider gegen Zalando-Gutscheine ein – damit bleibt das Geld im Zalando-Universum. Der Online-Händler verdient auf diese Weise gleich zweimal und schreibt sich gleichzeitig Nachhaltigkeit und Umweltschutz auf die Fahnen, verbessert also das eigene Image. Weil alles so herrlich bequem ist, wird der ewige Kreislauf des Ausmistens und Weiterkonsumierens befeuert, dabei wäre es eher an der Zeit, über das eigene Kaufverhalten, den Modezirkus und die Mechanismen des Marktes nachzudenken. Es ist nicht neu, dass sich der Kapitalismus Gegenbewegungen aneignet, sie vermarktet und damit viel Geld verdient, aber es stimmt mich dennoch immer wieder traurig. Der so schöne Gedanke, Gebrauchtes weiterleben zu lassen wird hier auf perfide Art und Weise verdreht. Mögen Charity und der Charme der Flohmärkte die Textil-Riesen überdauern!

Unterwegs mit Winfried Kretschmann – warum Paternalismus in der S-Bahn unerwünscht ist

Oh, wie wütend macht er mich jeden Morgen! Winfried Kretschmann, der Ministerpräsident Baden-Württembergs, begleitet mich in der S-Bahn schon in aller Frühe und säuselt mir nasal-schwäbelnd ins Ohr: „Wir gehen auf Nummer sicher. Wir tragen einen Mund-Nasen-Schutz…“ Hoppla – welches „Wir“ meint er denn? Was haben die Bürger, die in öffentlichen Verkehrsmitteln sitzen, mit dem auto-affinen Grünen-Politiker gemein? Haben die Auswirkungen der Corona-Krise nicht gerade gezeigt, dass es diese große „Wir“ gar nicht gibt, und dass „Wir“ längst nicht alle gleich stark betroffen sind?

Der Einspieler ist nur kurz, aber trotzdem schafft er es, mich gleich mehrfach in Rage zu versetzen. Warum suggeriert der Politiker hier, es gebe so etwas wie „auf Nummer sicher gehen“? Natürlich sind Masken wichtig und sie schützen, aber ist es nicht falsch, den Leuten zu vermitteln, es könne nichts passieren? Hat uns nicht gerade Corona gelehrt, dass nichts sicher ist? Dass Lebensentwürfe platzen und Existenzen bröckeln können? Und zwar auch in einem reichen Land wie der BRD? Die politischen Folgen, die sich schon in Form sogenannter „Querdenker-Demos“ zeigen, lassen alle möglichen Gedanken in mir hochkommen, aber ich wähne mich bestimmt nicht in Sicherheit… Wie schon Erich Kästner gesagt hat: „Leben ist lebensgefährlich“ – warum also die Bevölkerung in der S-Bahn einlullen?

Das Anbiedern des Ministerpräsidenten endet mit dem Wunsch, man möge eine schöne Fahrt durch Baden-Württemberg haben. Warum? Ich möchte schreien, wenn ich das höre! Die meisten Menschen um mich herum sind einfach auf dem Weg zu ihren Arbeitsplätzen, die sie glücklicherweise noch haben und auch behalten wollen – vielleicht haben sie eigentlich große Angst vor dem Virus und wären lieber zu Hause. Bestimmt sitzt oder steht keiner in der vollen Bahn, um eine schöne Fahrt durch Baden-Württemberg zu erleben.

Ich kenne die Abstandsregeln und trage eine Mund-Nasen-Bedeckung, weil beides aus medizinischen Gründen geboten ist – ich brauche keinen pseudo-fürsorglichen Ministerpräsidenten, der mich mahnt und ständig um die Einhaltung bittet. Was soll das? Ist das Wahlwerbung in Dauerschleife? Oder schlechtes Gewissen, weil die Politik in dieser Krise zwar die großen Betriebe unterstützt, aber doch auch viele Menschen vergisst?

Der Überfall des Corona-Katers – wie leben wir unseren neuen Alltag?

Ich habe es getan und es fällt mir nicht leicht, darüber zu sprechen. Jedem will ich das gar nicht erzählen. Das schlechte Gewissen plagt mich seitdem, und ich überlege mir, was ich wann hätte anders machen sollen. Einige Tage danach quälen mich noch immer seltsame Gedanken. Ich bereue es nicht, denn es war toll, aber ich habe Angst vor den Folgen. Schließlich bin nicht nur ich betroffen, sondern auch meine Mitmenschen, und zwar alle, mit denen ich Kontakt hatte. Welches Gespräch hat zu lange gedauert? Welches war überflüssig? Wann habe ich den Mindestabstand nicht eingehalten? War ich nicht zu leichtsinnig? Das sind die Fragen, die mich beschäftigen, denn ich habe es gewagt und im Sommer 2020 ein Festival besucht. Damit meine ich jetzt keinen wilden Hasenheide-Rave, sondern ein Festival, das in Übereinstimmung mit der Corona-Verordnung des Landes Brandenburg stattfinden konnte. Beim Einlass haben wir uns brav unsere Temperatur messen lassen, wir haben mit Mundschutz getanzt und – sofern nötig – hat ein Awareness-Team uns freundlich auf die Einhaltung des Mindestabstands hingewiesen. Und dennoch hat es Momente gegeben, in denen ich dachte, dass das alles schon ein bisschen gefährlich werden könnte, soviele Menschen auf einem Flecken (auch wenn dieser großzügig bemessen gewesen ist).

Zu Beginn der Corona-Pandemie haben viele befürchtet, das menschliche Verhalten werde sich grundlegend verändern. Bald würden die Menschen verlernen, sich zu umarmen. Händeschütteln, einst eine Geste der Höflichkeit, würde stigmatisiert. Misstrauen und die Angst vor anderen Leuten würden sich durchsetzen. Meinen Beobachtungen nach zu urteilen ist jedoch alles unverändert: Menschen sind viel zu anziehend und uralte Verhaltensweisen lassen sich nicht einfach durch ein paar Wochen Zwangspause abstellen. Ich sehe meine Freunde plötzlich Fremde küssen, Zigaretten werden hin- und hergereicht und irgendwann vergesse auch ich alle AHA-Regeln und nippe an der angebotenen Cola. Einerseits ist das beruhigend, denn was ist der Mensch ohne Nähe zu seinen Mitmenschen? Andererseits ist es eben gefährlich und zwar nicht nur für mich, sondern für alle, denen ich im Folgenden begegnen werde.

Hier setzt bei mir eine neue Art Kater ein, ein bislang ungekanntes Gefühl, das es nun auszuhalten gilt: ein heftiges Schuldgefühl nach der unnötigen Missachtung einiger Corona-Regeln. Ich hadere tagelang und fühle mich schlecht – obwohl ich nichts verbrochen habe. Trotzdem: Die reine Freude über das Festival wird durch ein leichtes Unbehagen getrübt.

Margarete Stokowski schrieb im Spiegel von der Kluft zwischen denen, die es schaffen, in Corona-Zeiten eine Art Alltag zu leben, und denen, die immer noch Angst haben und weit entfernt davon sind, ihr altes Leben zu führen.

Eine echte Wahl habe ich nicht gehabt: Wegen meiner Kinder und meiner Tätigkeit bin ich schon seit Längerem gezwungen, wieder eine Art Normalität zu leben. Im Zuge dessen habe ich mich auch dafür entschieden, das Festival zu besuchen. Klar, die Karten waren lange vor Corona gekauft und vermutlich hätte ich sie diesen Sommer nicht mehr besorgt. Aber nun waren die Tickets eben da und ich habe einen weiteren Schritt in Richtung Alltag unternommen. Das damit einhergehende schlechte Gewissen muss ich jetzt wohl aushalten.

Nachfolgend trage ich meine Maske noch gewissenhafter, bleibe zu Hause, halte vermehrt Abstand und versuche, meine Mitmenschen – wenn überhaupt – nur noch draußen und mit entsprechendem Abstand zu treffen. Schließlich sollen sie nicht unter meinem möglicherweise riskanten Verhalten leiden. Dennoch wäre es natürlich noch sicherer gewesen, zu Hause auf dem Sofa sitzen zu bleiben – das ist mir auch klar. Aber ich bin aufgestanden und habe das heimische Wohnzimmer verlassen – einfach nur, um ein bisschen Spaß zu haben, um das lange Geplante wahr werden zu lassen, um diesen Sommer einmal auszubrechen. Ein Verhalten, das viele gezeigt haben: Manche haben sich in Flugzeuge oder an Strände getraut, andere haben in Risikogebieten geurlaubt und sich hinterher reumütig testen lassen oder gleich in Quarantäne begeben.

In der Süddeutschen Zeitung vom 4. September 2020 schreibt Jagoda Marinic: „Risiko gehört zum Leben, das scheint seit Corona vergessen zu sein“. So ist es: Das Risiko einer Ansteckung lauert überall und es gibt jede Menge anderer Krankheiten, mit denen wir uns auch jederzeit infizieren können. Wie klammern uns an Maskenpflicht und AHA-Regeln fest, als gäbe es 100%-ige Sicherheit. Das zu sehen spricht meines Erachtens nicht für leichtsinniges oder grob fahrlässiges Verhalten, sondern für einen verantwortungsbewussten Umgang mit unserer „neuen Normalität“. Wir wollen nicht fatalistisch sein, aber uns schrittweise und ganz langsam wieder an das, was unser Leben auch ausmacht, herantasten. Schließlich wird die Pandemie nicht morgen vorbei sein. Wie dieses Herantasten aussehen kann, muss wohl jeder für sich entscheiden – und gegebenenfalls mit den Folgen – wie beispielsweise Gewissensbissen – leben. Neben Verantwortungsbewusstsein brauchen wir dafür jede Menge Verständnis und Toleranz, denn es darf nicht sein, dass die Menschen, denen es nach Stokowski gelingt, ihren Alltag wieder stückweise aufzunehmen, mit dem Finger auf andere zeigen, die noch nicht so weit sind und sich ihnen gegenüber rücksichtslos verhalten. Was aber auch tabu sein muss, ist das Anschuldigen und Beschimpfen derer, die verreisen, die dem Leben auch in diesen Zeiten noch Freude außerhalb der eigenen vier Wände abtrotzen wollen. Hier ist sie wieder gefragt: die in Corona-Zeiten viel beschworene Solidarität.

Wenn Tiere und Menschen leiden – der wahre Preis billiger Grillorgien

„Auf dem Hang hinter meinem Hof stehen alle Tiere, die ich schon getötet habe, alle, sie schauen mich an und kommen langsam auf mich zu, es werden immer mehr. Bis ich aufwache.“ Mit diesem Worten erzählt ein ehemaliger Kopfschlächter dem Zeit-Autor Bernd Ulrich von seinen furchtbaren Albträumen, die ihn Nacht für Nacht plagen und ihn mit den Traumata seines Arbeitslebens konfrontieren. Bernd Ulrich hat dieses Zitat 2018 für seinen im Zeit-Magazin erschienen Text „Verschärfte Wahrnehmung“, in dem er sein neues veganes Leben beschreibt, verwendet. Immer wieder fällt es mir ein, weil es doch zeigt, dass das Töten von Tieren nicht spurlos an Menschen vorüber geht. Sogar wenn diese überzeugte Fleischesser sind, macht das Schlachten etwas mit ihnen und geht ihnen noch lange nach.

Es muss nicht immer Tier sein…

Es ist also nicht weiter verwunderlich, dass kaum einer in Schlachthöfen arbeiten möchte.

Die fleischverarbeitenden Betriebe nutzen die Not vieler Menschen aus, um billiges Fleisch zu produzieren. Dabei scheint ihnen nicht nur die Schuld egal sein, die sie sich durch das Töten von Tieren aufladen, auch die Arbeitsbedingungen, unter denen Tiere geschlachtet und zerteilt werden, kümmern sie wenig. Nicht nur die psychische Gesundheit der Mitarbeiter*innen wird hier riskiert, sondern – wie durch die Corona-Infizierungen bei Tönnies deutlich geworden – auch die physische Gesundheit. Wir schauen gerne weg und überlegen gar nicht, wie es sein kann, dass Fleisch zu Dumping-Preisen in der Kühltheke liegt. Jetzt sind wir gezwungen, genauer hinzusehen, um vielleicht dauerhaft etwas zu ändern.

Wochenlang lebten wir in der BRD einen partiellen Lockdown: Läden, Fitness-Studios, Restaurants und Cafés, Betriebe, Clubs, Schulen und Kindergärten waren geschlossen. Keine Parties, keine Treffen mit Freunden oder Verwandten, jeden Tag selbst drei Mahlzeiten kochen und Kinder betreuen und beschulen – parallel zum eigenen Home-Office. Bis heute ist der Unterrichtsbetrieb in deutschen Schulen nicht vollständig wieder aufgenommen – manche Schüler*innen besuchen ihre Schule alle zwei Wochen, manche nur ein paar Tage pro Woche, andere nur noch wenige Tage, bevor die Sommerferien für sie beginnen. Wann das Nachleben wieder lebendig wird, und die Clubs öffnen, steht in den Sternen. Hier wird noch nicht einmal ein Datum genannt.

Wir nehmen das alles hin, machen mit, so gut es geht. Wir jammern ein bisschen, sind aber auch ein bisschen stolz darauf, wie wir und unsere Kinder diese schwierige Situation gemeistert haben.

Gut im Gedächtnis geblieben ist mir die Anfangs-Zeit des Lockdowns, als alle an ihrem lange geplanten Roman schrieben, doch noch Spanisch lernten, ihren Körper perfektionierten oder wenigstens – angeleitet von Alba Berlin – mit den Kindern durchs Wohnzimmer turnten. Alle waren bereit, Neues auszuprobieren, sprachen von den Vorteilen dieser Situation, nannten die Krise eine Chance und Zukunftsforscher hofften sogar auf ein langfristig verändertes Konsumverhalten.

Warum schließen wir jetzt nicht alle Schlachthöfe, fleischverarbeitenden Betriebe und Wursttheken für ein paar Wochen? Weshalb schicken wir nicht die Fleischereifachverkäufer*innen und Metzger*innen in Kurzarbeit? Warum versuchen wir jetzt nicht etwas Neues und leben für einige Wochen vegetarisch oder gar vegan? Nachdem wir auf alles Mögliche verzichtet haben, sollte es kein Problem sein, sich für ein paar Wochen fleischlos zu ernähren. Jetzt, auf dem Höhepunkt der Grillsaison 2020, könnten wir ganz neue Wege beschreiten und Tofuwürstchen und Gemüsepakete auf den Grill packen und uns als Nachtisch Bananen schmoren. Auch hier winken neue Erfahrungen! Anstelle der Fotos von selbstgebackenem Bananenbrot, die wirklich keiner mehr sehen will, könnte der Instagram-Account mit Fotos von veganen Köstlichkeiten bestückt werden – das wäre doch mal eine echte Challenge!

Weshalb schlägt das niemand vor? Schließlich ist auch hier Gefahr im Verzug – für Mensch und Tier. Wie bei vielen Problemen fungiert Covid-19 hier nur als Lupe, die bestehende Probleme endlich für alle sichtbar macht. Das hat sogar Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner erkannt, die die Fleischindustrie jetzt zu einem „Wandel“ aufgerufen hat. Wenn sogar Klöckner, die noch vor einigen Wochen zusammen mit Johann Lafer fröhlich Billigfleisch in die Pfanne gehauen hat, umdenken kann, dann schaffen das wirklich alle. Aber warum traut sich niemand an diesen – angesichts der ganzen Misere gar nicht mal so radikal anmutenden – Schritt heran?

Schon Brecht wusste, dass erst das Fressen und dann die Moral kommt. Vielleicht haben wir den Verzicht auf unser gewohntes Leben nur ausgehalten, weil wir wussten, es würde uns nicht an billigen Grillwürstchen und Nackensteaks mangeln. Das schöne Wetter während des Lockdowns konnten wir wunderbar zum Angrillen nutzen. Und das ewige Einerlei der Kurzarbeit Null ließ sich durch das Schweinebraten-Rezept, das man schon längst ausprobieren wollte, durchbrechen. Kalbsschnitzel endlich selbst panieren – eine der Möglichkeiten, die uns Corona geboten hat! Schließlich mussten wir auf so viel verzichten…

Aber was tun, wenn Fressen und Moral so eng zusammen hängen, dass sie sich kaum mehr voneinander trennen lassen? Wenn Menschen und Tiere leiden und ausgebeutet werden, nur damit wir unseren Hunger auf Fleisch jederzeit problemlos stillen können?

Im Jahre 1970 begann Peter Singer, ein australischer Philosoph und Tierrechtler, darüber nachzudenken, wie es sich moralisch begründen ließe, Tiere zu essen. Er hat bis heute kein einziges Argument gefunden, mit dem sich der Verzehr von Fleisch rechtfertigen ließe. Seiner Meinung nach sind die kurzlebigen Gaumenfreuden des Menschen nichts im Vergleich zu dem unsagbaren Leid der Tiere, die für unseren Genuss ihr Leben lassen.

Angesichts der Arbeitsbedingungen in den großen Fleischbetrieben, die den Markt kontrollieren, spricht heute noch ein weiteres gewaltiges Argument gegen den Verzehr von Fleisch: das Leid der Frauen und Männer, meist osteuropäischer Herkunft, die in diesen Betrieben schlachten, Tiere zerlegen und weiter verarbeiten. Unsere Freude an billigen Nackensteaks und unser Interesse an wöchentlichen Grillorgien muss – moralisch betrachtet – hinter dem Interesse der Arbeiter*innen an angemessener Bezahlung, Gesundheitsschutz und menschlichen Wohn- und Arbeitsbedingungen zurückstehen.

Wenn wir auf Tönnies und den partiellen Lockdown in Gütersloh und Umgebung schimpfen, dann müssen wir auch anfangen, unseren eigenen Umgang mit Tieren und unser Konsumverhalten auf den Prüfstand stellen. Anderenfalls machen wir uns einer Sigmar Gabriel-haften Doppelmoral verdächtig. Wobei die Dreistigkeit des ehemaligen SPD-Ministers, der noch 2015 die Wohn- und Arbeitsbedingungen der Tönnies-Mitarbeiter anprangerte und 2020 zehntausende Euro für eine „Beratertätigkeit“ in eben diesem Betrieb kassierte, nur noch das I-Tüpfelchen auf der längst zum Himmel stinkenden Geschichte der fleischverarbeitenden Industrie in Deutschland ist.

In unserer Welt hängt alles zusammen, eines bedingt das andere. Es geht also längst nicht mehr um das Würstchen auf unserem Teller und das Schwein, das dafür gestorben ist. In Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen, wo die Mehrheit der Schweine in Deutschland gehalten werden, ist das Grundwasser durch die Schweinegülle nitratverseucht. Regenwälder werden abgeholzt, um Soja als Futtermittel für Rinder anpflanzen zu können. Die Klimaveränderungen, unter denen vor allem die Länder der sogenannten Dritten Welt leiden werden, hängen bekanntermaßen eng mit dem Methan-Ausstoß von Rindern und unserem Fleischkonsum zusammen.

Bei Tönnies wird zwar wieder geschlachtet, aber wir sind nicht ohnmächtig. Wir können jetzt und hier anfangen, umzudenken und anders zu handeln. Wir müssen nicht unser komplettes Leben umkrempeln, sondern nur besser überlegen, was wir uns auf Teller und Grill packen wollen. Warum tun wir uns hier so schwer, die Krise in der Fleischverarbeitung als Chance zu sehen?

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