Wenn Tiere und Menschen leiden – der wahre Preis billiger Grillorgien

„Auf dem Hang hinter meinem Hof stehen alle Tiere, die ich schon getötet habe, alle, sie schauen mich an und kommen langsam auf mich zu, es werden immer mehr. Bis ich aufwache.“ Mit diesem Worten erzählt ein ehemaliger Kopfschlächter dem Zeit-Autor Bernd Ulrich von seinen furchtbaren Albträumen, die ihn Nacht für Nacht plagen und ihn mit den Traumata seines Arbeitslebens konfrontieren. Bernd Ulrich hat dieses Zitat 2018 für seinen im Zeit-Magazin erschienen Text „Verschärfte Wahrnehmung“, in dem er sein neues veganes Leben beschreibt, verwendet. Immer wieder fällt es mir ein, weil es doch zeigt, dass das Töten von Tieren nicht spurlos an Menschen vorüber geht. Sogar wenn diese überzeugte Fleischesser sind, macht das Schlachten etwas mit ihnen und geht ihnen noch lange nach.

Es muss nicht immer Tier sein…

Es ist also nicht weiter verwunderlich, dass kaum einer in Schlachthöfen arbeiten möchte.

Die fleischverarbeitenden Betriebe nutzen die Not vieler Menschen aus, um billiges Fleisch zu produzieren. Dabei scheint ihnen nicht nur die Schuld egal sein, die sie sich durch das Töten von Tieren aufladen, auch die Arbeitsbedingungen, unter denen Tiere geschlachtet und zerteilt werden, kümmern sie wenig. Nicht nur die psychische Gesundheit der Mitarbeiter*innen wird hier riskiert, sondern – wie durch die Corona-Infizierungen bei Tönnies deutlich geworden – auch die physische Gesundheit. Wir schauen gerne weg und überlegen gar nicht, wie es sein kann, dass Fleisch zu Dumping-Preisen in der Kühltheke liegt. Jetzt sind wir gezwungen, genauer hinzusehen, um vielleicht dauerhaft etwas zu ändern.

Wochenlang lebten wir in der BRD einen partiellen Lockdown: Läden, Fitness-Studios, Restaurants und Cafés, Betriebe, Clubs, Schulen und Kindergärten waren geschlossen. Keine Parties, keine Treffen mit Freunden oder Verwandten, jeden Tag selbst drei Mahlzeiten kochen und Kinder betreuen und beschulen – parallel zum eigenen Home-Office. Bis heute ist der Unterrichtsbetrieb in deutschen Schulen nicht vollständig wieder aufgenommen – manche Schüler*innen besuchen ihre Schule alle zwei Wochen, manche nur ein paar Tage pro Woche, andere nur noch wenige Tage, bevor die Sommerferien für sie beginnen. Wann das Nachleben wieder lebendig wird, und die Clubs öffnen, steht in den Sternen. Hier wird noch nicht einmal ein Datum genannt.

Wir nehmen das alles hin, machen mit, so gut es geht. Wir jammern ein bisschen, sind aber auch ein bisschen stolz darauf, wie wir und unsere Kinder diese schwierige Situation gemeistert haben.

Gut im Gedächtnis geblieben ist mir die Anfangs-Zeit des Lockdowns, als alle an ihrem lange geplanten Roman schrieben, doch noch Spanisch lernten, ihren Körper perfektionierten oder wenigstens – angeleitet von Alba Berlin – mit den Kindern durchs Wohnzimmer turnten. Alle waren bereit, Neues auszuprobieren, sprachen von den Vorteilen dieser Situation, nannten die Krise eine Chance und Zukunftsforscher hofften sogar auf ein langfristig verändertes Konsumverhalten.

Warum schließen wir jetzt nicht alle Schlachthöfe, fleischverarbeitenden Betriebe und Wursttheken für ein paar Wochen? Weshalb schicken wir nicht die Fleischereifachverkäufer*innen und Metzger*innen in Kurzarbeit? Warum versuchen wir jetzt nicht etwas Neues und leben für einige Wochen vegetarisch oder gar vegan? Nachdem wir auf alles Mögliche verzichtet haben, sollte es kein Problem sein, sich für ein paar Wochen fleischlos zu ernähren. Jetzt, auf dem Höhepunkt der Grillsaison 2020, könnten wir ganz neue Wege beschreiten und Tofuwürstchen und Gemüsepakete auf den Grill packen und uns als Nachtisch Bananen schmoren. Auch hier winken neue Erfahrungen! Anstelle der Fotos von selbstgebackenem Bananenbrot, die wirklich keiner mehr sehen will, könnte der Instagram-Account mit Fotos von veganen Köstlichkeiten bestückt werden – das wäre doch mal eine echte Challenge!

Weshalb schlägt das niemand vor? Schließlich ist auch hier Gefahr im Verzug – für Mensch und Tier. Wie bei vielen Problemen fungiert Covid-19 hier nur als Lupe, die bestehende Probleme endlich für alle sichtbar macht. Das hat sogar Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner erkannt, die die Fleischindustrie jetzt zu einem „Wandel“ aufgerufen hat. Wenn sogar Klöckner, die noch vor einigen Wochen zusammen mit Johann Lafer fröhlich Billigfleisch in die Pfanne gehauen hat, umdenken kann, dann schaffen das wirklich alle. Aber warum traut sich niemand an diesen – angesichts der ganzen Misere gar nicht mal so radikal anmutenden – Schritt heran?

Schon Brecht wusste, dass erst das Fressen und dann die Moral kommt. Vielleicht haben wir den Verzicht auf unser gewohntes Leben nur ausgehalten, weil wir wussten, es würde uns nicht an billigen Grillwürstchen und Nackensteaks mangeln. Das schöne Wetter während des Lockdowns konnten wir wunderbar zum Angrillen nutzen. Und das ewige Einerlei der Kurzarbeit Null ließ sich durch das Schweinebraten-Rezept, das man schon längst ausprobieren wollte, durchbrechen. Kalbsschnitzel endlich selbst panieren – eine der Möglichkeiten, die uns Corona geboten hat! Schließlich mussten wir auf so viel verzichten…

Aber was tun, wenn Fressen und Moral so eng zusammen hängen, dass sie sich kaum mehr voneinander trennen lassen? Wenn Menschen und Tiere leiden und ausgebeutet werden, nur damit wir unseren Hunger auf Fleisch jederzeit problemlos stillen können?

Im Jahre 1970 begann Peter Singer, ein australischer Philosoph und Tierrechtler, darüber nachzudenken, wie es sich moralisch begründen ließe, Tiere zu essen. Er hat bis heute kein einziges Argument gefunden, mit dem sich der Verzehr von Fleisch rechtfertigen ließe. Seiner Meinung nach sind die kurzlebigen Gaumenfreuden des Menschen nichts im Vergleich zu dem unsagbaren Leid der Tiere, die für unseren Genuss ihr Leben lassen.

Angesichts der Arbeitsbedingungen in den großen Fleischbetrieben, die den Markt kontrollieren, spricht heute noch ein weiteres gewaltiges Argument gegen den Verzehr von Fleisch: das Leid der Frauen und Männer, meist osteuropäischer Herkunft, die in diesen Betrieben schlachten, Tiere zerlegen und weiter verarbeiten. Unsere Freude an billigen Nackensteaks und unser Interesse an wöchentlichen Grillorgien muss – moralisch betrachtet – hinter dem Interesse der Arbeiter*innen an angemessener Bezahlung, Gesundheitsschutz und menschlichen Wohn- und Arbeitsbedingungen zurückstehen.

Wenn wir auf Tönnies und den partiellen Lockdown in Gütersloh und Umgebung schimpfen, dann müssen wir auch anfangen, unseren eigenen Umgang mit Tieren und unser Konsumverhalten auf den Prüfstand stellen. Anderenfalls machen wir uns einer Sigmar Gabriel-haften Doppelmoral verdächtig. Wobei die Dreistigkeit des ehemaligen SPD-Ministers, der noch 2015 die Wohn- und Arbeitsbedingungen der Tönnies-Mitarbeiter anprangerte und 2020 zehntausende Euro für eine „Beratertätigkeit“ in eben diesem Betrieb kassierte, nur noch das I-Tüpfelchen auf der längst zum Himmel stinkenden Geschichte der fleischverarbeitenden Industrie in Deutschland ist.

In unserer Welt hängt alles zusammen, eines bedingt das andere. Es geht also längst nicht mehr um das Würstchen auf unserem Teller und das Schwein, das dafür gestorben ist. In Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen, wo die Mehrheit der Schweine in Deutschland gehalten werden, ist das Grundwasser durch die Schweinegülle nitratverseucht. Regenwälder werden abgeholzt, um Soja als Futtermittel für Rinder anpflanzen zu können. Die Klimaveränderungen, unter denen vor allem die Länder der sogenannten Dritten Welt leiden werden, hängen bekanntermaßen eng mit dem Methan-Ausstoß von Rindern und unserem Fleischkonsum zusammen.

Bei Tönnies wird zwar wieder geschlachtet, aber wir sind nicht ohnmächtig. Wir können jetzt und hier anfangen, umzudenken und anders zu handeln. Wir müssen nicht unser komplettes Leben umkrempeln, sondern nur besser überlegen, was wir uns auf Teller und Grill packen wollen. Warum tun wir uns hier so schwer, die Krise in der Fleischverarbeitung als Chance zu sehen?

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