Der Überfall des Corona-Katers – wie leben wir unseren neuen Alltag?

Ich habe es getan und es fällt mir nicht leicht, darüber zu sprechen. Jedem will ich das gar nicht erzählen. Das schlechte Gewissen plagt mich seitdem, und ich überlege mir, was ich wann hätte anders machen sollen. Einige Tage danach quälen mich noch immer seltsame Gedanken. Ich bereue es nicht, denn es war toll, aber ich habe Angst vor den Folgen. Schließlich bin nicht nur ich betroffen, sondern auch meine Mitmenschen, und zwar alle, mit denen ich Kontakt hatte. Welches Gespräch hat zu lange gedauert? Welches war überflüssig? Wann habe ich den Mindestabstand nicht eingehalten? War ich nicht zu leichtsinnig? Das sind die Fragen, die mich beschäftigen, denn ich habe es gewagt und im Sommer 2020 ein Festival besucht. Damit meine ich jetzt keinen wilden Hasenheide-Rave, sondern ein Festival, das in Übereinstimmung mit der Corona-Verordnung des Landes Brandenburg stattfinden konnte. Beim Einlass haben wir uns brav unsere Temperatur messen lassen, wir haben mit Mundschutz getanzt und – sofern nötig – hat ein Awareness-Team uns freundlich auf die Einhaltung des Mindestabstands hingewiesen. Und dennoch hat es Momente gegeben, in denen ich dachte, dass das alles schon ein bisschen gefährlich werden könnte, soviele Menschen auf einem Flecken (auch wenn dieser großzügig bemessen gewesen ist).

Zu Beginn der Corona-Pandemie haben viele befürchtet, das menschliche Verhalten werde sich grundlegend verändern. Bald würden die Menschen verlernen, sich zu umarmen. Händeschütteln, einst eine Geste der Höflichkeit, würde stigmatisiert. Misstrauen und die Angst vor anderen Leuten würden sich durchsetzen. Meinen Beobachtungen nach zu urteilen ist jedoch alles unverändert: Menschen sind viel zu anziehend und uralte Verhaltensweisen lassen sich nicht einfach durch ein paar Wochen Zwangspause abstellen. Ich sehe meine Freunde plötzlich Fremde küssen, Zigaretten werden hin- und hergereicht und irgendwann vergesse auch ich alle AHA-Regeln und nippe an der angebotenen Cola. Einerseits ist das beruhigend, denn was ist der Mensch ohne Nähe zu seinen Mitmenschen? Andererseits ist es eben gefährlich und zwar nicht nur für mich, sondern für alle, denen ich im Folgenden begegnen werde.

Hier setzt bei mir eine neue Art Kater ein, ein bislang ungekanntes Gefühl, das es nun auszuhalten gilt: ein heftiges Schuldgefühl nach der unnötigen Missachtung einiger Corona-Regeln. Ich hadere tagelang und fühle mich schlecht – obwohl ich nichts verbrochen habe. Trotzdem: Die reine Freude über das Festival wird durch ein leichtes Unbehagen getrübt.

Margarete Stokowski schrieb im Spiegel von der Kluft zwischen denen, die es schaffen, in Corona-Zeiten eine Art Alltag zu leben, und denen, die immer noch Angst haben und weit entfernt davon sind, ihr altes Leben zu führen.

Eine echte Wahl habe ich nicht gehabt: Wegen meiner Kinder und meiner Tätigkeit bin ich schon seit Längerem gezwungen, wieder eine Art Normalität zu leben. Im Zuge dessen habe ich mich auch dafür entschieden, das Festival zu besuchen. Klar, die Karten waren lange vor Corona gekauft und vermutlich hätte ich sie diesen Sommer nicht mehr besorgt. Aber nun waren die Tickets eben da und ich habe einen weiteren Schritt in Richtung Alltag unternommen. Das damit einhergehende schlechte Gewissen muss ich jetzt wohl aushalten.

Nachfolgend trage ich meine Maske noch gewissenhafter, bleibe zu Hause, halte vermehrt Abstand und versuche, meine Mitmenschen – wenn überhaupt – nur noch draußen und mit entsprechendem Abstand zu treffen. Schließlich sollen sie nicht unter meinem möglicherweise riskanten Verhalten leiden. Dennoch wäre es natürlich noch sicherer gewesen, zu Hause auf dem Sofa sitzen zu bleiben – das ist mir auch klar. Aber ich bin aufgestanden und habe das heimische Wohnzimmer verlassen – einfach nur, um ein bisschen Spaß zu haben, um das lange Geplante wahr werden zu lassen, um diesen Sommer einmal auszubrechen. Ein Verhalten, das viele gezeigt haben: Manche haben sich in Flugzeuge oder an Strände getraut, andere haben in Risikogebieten geurlaubt und sich hinterher reumütig testen lassen oder gleich in Quarantäne begeben.

In der Süddeutschen Zeitung vom 4. September 2020 schreibt Jagoda Marinic: „Risiko gehört zum Leben, das scheint seit Corona vergessen zu sein“. So ist es: Das Risiko einer Ansteckung lauert überall und es gibt jede Menge anderer Krankheiten, mit denen wir uns auch jederzeit infizieren können. Wie klammern uns an Maskenpflicht und AHA-Regeln fest, als gäbe es 100%-ige Sicherheit. Das zu sehen spricht meines Erachtens nicht für leichtsinniges oder grob fahrlässiges Verhalten, sondern für einen verantwortungsbewussten Umgang mit unserer „neuen Normalität“. Wir wollen nicht fatalistisch sein, aber uns schrittweise und ganz langsam wieder an das, was unser Leben auch ausmacht, herantasten. Schließlich wird die Pandemie nicht morgen vorbei sein. Wie dieses Herantasten aussehen kann, muss wohl jeder für sich entscheiden – und gegebenenfalls mit den Folgen – wie beispielsweise Gewissensbissen – leben. Neben Verantwortungsbewusstsein brauchen wir dafür jede Menge Verständnis und Toleranz, denn es darf nicht sein, dass die Menschen, denen es nach Stokowski gelingt, ihren Alltag wieder stückweise aufzunehmen, mit dem Finger auf andere zeigen, die noch nicht so weit sind und sich ihnen gegenüber rücksichtslos verhalten. Was aber auch tabu sein muss, ist das Anschuldigen und Beschimpfen derer, die verreisen, die dem Leben auch in diesen Zeiten noch Freude außerhalb der eigenen vier Wände abtrotzen wollen. Hier ist sie wieder gefragt: die in Corona-Zeiten viel beschworene Solidarität.

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