Liebe R.! Oder: Brief an eine „Querdenkerin“!

Niemals hätte ich gedacht, dass es so weit kommen könnte. Dass ich jetzt hier sitze und Dir schreibe, dass ich Abstand brauche, weil ich nicht mehr weiß, wie ich mit Dir umgehen soll, weil Du Meinungen vertrittst, die mich seit einem Jahr wütend machen und die ich nicht mehr hören will.

Als die Pandemie uns vor über einem Jahr erreichte, war ich mir sicher, dass die meisten Menschen die Einschränkungen bereitwillig mittragen würden. Um Leben zu retten, Plätze in Intensivbetten zu sichern, einfach um solidarisch zu sein. Bei Dir hätte ich auch keine Sekunde daran gezweifelt, auch wenn Du schon damals schon für „das schwedische Modell“ geschwärmt hast und die Einschränkungen Dich genervt haben. Aber für wen waren sie nicht anstrengend?

Natürlich ist es auch mir nicht leichtgefallen, auf alles Mögliche zu verzichten: Homeoffice ohne Kinderbetreuung, Fernlernen mit einem Grundschüler, Sorge um Eltern und Großeltern und dazu der Alltagstrott in Potenz. Aber um Leben zu retten, schien und scheint mir der Preis nicht zu hoch.

Ich wusste nicht, wann das Alles enden würde und welche Auswirkungen es auf die Menschheit und auf mein kleines bescheidenes Leben haben würde. Aber ich hätte niemals gedacht, dass ich Dich, eine meiner besten Freundinnen wegen Corona und allem, was damit zusammenhängt, verlieren könnte. Nicht weil wir uns durch die Ausgangsbeschränkungen zu selten sehen, sondern weil Du mittlerweile von einem Fan des „schwedischen Modells“ zu einer sogenannten „Querdenkerin“ geworden bist – auch wenn Du Dich selbst niemals so bezeichnen würdest.

Ich dachte immer, es sind irgendwelche Anderen, die mit Demonstrierenden auf dem Stuttgarter Wasen und an anderen Orten, sympathisieren. Doch nicht Du! Die Freundin, dich ich so gerne mag, mit der ich Schwangerschaft und erste Babyzeit durchgestanden habe, mit der ich auf Hochzeiten gemeinsamer Freund*innen getanzt habe, mit der ich Sorgen teilte, die ich früher ständig sah. Wir schienen uns so ähnlich.

Ehrlich gesagt liegt es auch gar nicht an den Ausgangsbeschränkungen oder an unseren anstrengenden Jobs, dass wir uns nur noch so selten sehen, sondern daran, wie anstrengend unsere Treffen geworden sind. Unsere Meinungen sind zu verschieden, Du willst meine Argumente nicht hören, weil sie ja Deiner Meinung nach ohnehin nur den Mainstream und die angeblich staatlich gelenkte Presse widerspiegeln. Und ich möchte mich nicht als gedankenloses Schaf hinstellen lassen, nur weil ich Mund-Nasen-Bedeckung trage und Jan-Josef Liefers für einen Schauspieler und nicht für einen Freiheitskämpfer halte.

Während ich mich von Dir nicht gehört fühle, werde ich von Dir über die Sozialen Medien bombardiert mit Unterschriftenaktionen, abstrusen Meinungen von Professor*innen und Kinderärzt*innen und Studien unklarer Herkunft. Anfangs habe ich noch versucht, mich damit zu befassen und dem etwas entgegen zu setzen, aber da ist kein Hauch eines Interesses für eine andere Meinung. Oder für schlichte Fakten.

Es ist nicht so, dass ich nicht mit anderen Meinungen zurechtkomme, oder dass alle meine Freund*innen gleich denken müssen. Im Gegenteil – Diskussionen sind spannend, neue Gedanken bereichern Freundschaften unendlich. Auch früher waren wir nicht immer einer Meinung. Wir haben immer gerne diskutiert. Aber hier scheint es nicht um einen Meinungsaustausch zu gehen, sondern nur um ein Überzeugen, um ein Rechthaben, um ein Bekehren. Deine Meinung ist die einzig richtige, alles, was anders ist, wird als falsch betrachtet und darf nicht sein. Nicht einmal, wenn Fakten dies belegen. Du bist Dir Deiner Sache so sicher und Du wirkst – bitte entschuldige – in Deinem Einsatz für Deine Wahrheit so eitel, dass ich nicht mehr weiß, wie ich zu Dir durchdringen soll.

Wir haben immerhin beide gemerkt, dass es nicht mehr geht und nach all unseren Streitgesprächen reden wir jetzt einfach nicht mehr über Corona und alles, was damit zusammenhängt. Mittlerweile sprechen wir über die Männer, die uns in den 90ern gefallen haben oder wir kramen in unserem Gedächtnis verzweifelt nach Netflix-Serien, die wir einander empfehlen könnten. Aber dieses eine Thema bestimmt nun einmal unseren Alltag und unsere Gedanken. Corona und unser Leben in der Pandemie ist so präsent, dass ein Gespräch, das diese Dinge ausspart, schnell künstlich anmutet. Auch über die Kinder können wir nicht mehr sprechen, denn ich halte eine Mund-Nasen-Bedeckung in der Schule für sinnvoll und sehe in der Testpflicht keine Gefahr für die kindliche Seele. Du hast eine Unterschriftenaktionen gegen die Maskenpflicht in Schulen gestartet und beschulst Deine Kinder zu Hause, weil Du nichts vom Testen hältst. Wir sind uns nicht mehr wirklich nah. Du tust meine Sorgen ab und ich kann Deine nicht verstehen.

Ich weiß nicht, was ohne Corona aus uns und unserer Freundschaft geworden wäre. Hätten wir uns auch so weit auseinander entwickelt? Hätten wir uns mehr zu sagen? Oder würden uns andere Themen trennen? Wären wir uns einig? Würden wir weiterhin jedes Wochenende gemeinsam verbringen und unsere Kinder zusammen aufwachsen sehen?

Vieles, was mein früheres Leben ausgemacht hat, gibt es nicht mehr: Theater, Kino, Restaurants und Städtereisen fehlen mir, aber ich kann darauf verzichten. Soziale Bindungen und Freundschaften bleiben mir ja, dachte ich zumindest bislang. Niemals hätte ich es für möglich gehalten, dass die Pandemie nicht nur Lungen, sondern auch Freundschaften ruinieren könnte. Ein Graben tut sich zwischen uns auf und ich weiß nicht, wie wir ihn überwinden können.

Ich weiß also nicht, wie es weitergehen soll. Ob wir uns noch treffen sollen. Vielleicht irgendwann, wenn Corona vorbei ist? Aber selbst dann werden die unterschiedlichen Erinnerungen, die wir an diese Zeit haben werden, zwischen uns stehen. Wir werden sehen, was noch kommt und vielleicht Möglichkeiten finden, uns wieder „zusammen zu raufen“. Aber im Moment brauche ich meine Energie an anderen Stellen. Gerade jetzt brauche ich Freund*innen, die meine Sorgen ernst nehmen, mit denen ich über meinen Kummer sprechen kann und die meine Überzeugungen akzeptieren und nicht entwerten. Ich kann und will diesen so sinnlosen Kampf jetzt nicht mehr kämpfen. Ich brauche Abstand von Deiner Meinung. Dann kann ich Dich vielleicht auch irgendwann wiederfinden.

Deine A.

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